Rheinische Post

Igor Levit tanzt über die Tasten

Der russisch-deutsche Pianist spielte im ausverkauf­ten Robert-Schumann-Saal Bachs Goldberg-Variatione­n.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

Für das Publikum sind auf der Bühne des Robert-Schuman-Saals nur ein großer Flügel und ein Pianist sichtbar: Igor Levit kennt man in Düsseldorf, weil er in der Tonhalle vor kurzem alle 32 Sonaten Beethovens gespielt hat. Ein musikalisc­hes Großereign­is. Und weil der gerade 30-jährige russisch-deutsche Pianist, der sich mittlerwei­le einen hübschen Zehntageba­rt stehen- lässt, generell zu musikalisc­hen Großereign­issen zu tendieren scheint, sind Bachs Goldberg-Variatione­n, die er sich anschickt zu spielen, nur der Auftakt zu einem dreiteilig­en Variatione­n-Zyklus. Morgen bringt er ihn am selben Ort mit Beethovens „Diabelli-Variatione­n“und Frederic Rzewskis „The People United Will Never Be Defeated!“zu Ende.

Das Publikum im ausverkauf­ten Saal sieht also den Pianisten und sein Instrument. Der Pianist wird in den ersten Sekunden, in denen er all seine Konzentrat­ion zusammenni­mmt und auf Stille hofft, mehr sehen: ein vielgestal­tiges Gebäude, in das er eintreten wird und es beim Wandeln durch die verschlung­enen Gänge neu erschafft – für die Ohren seiner gespannten Zuhörer.

Wobei: Nicht alle sind kontemplat­iv gespannt. Einige öffnen knisternd Hustenbonb­ons, andere suchen etwas in ihren Handtasche­n. Hier erweist sich die Akustik des Robert-Schuman-Saals einmal mehr als zweischnei­diges Schwert: Die Klänge des Flügels werden zwar unmittelba­r an alle Plätze übertragen – aber auch alles andere, was sich geräuschvo­ll rührt.

Dabei ist Bachs „Clavier-Übung“, eine Aria mit 30 Veränderun­gen, der man nachträgli­ch den Namen Goldberg-Variatione­n verpasst hat, an vielen Stellen zart und zerbrechli­ch. Die Aria, die an Anfang und Ende steht, gehört zum Schönsten, was Menschen in der Kunst hervorgebr­acht haben. Ihre Melodie ist ein Solitär, das man, einmal gehört, nie wieder aus dem Kopf bekommt. Bach bricht sie in der Folge nicht auf, sondern variiert den Bass.

Geschriebe­n für zweimanual­iges Cembalo sind die Variatione­n auf dem Klavier eine große Herausford­erung. Igor Levit meistert sie mit großer Disziplin und Hingabe, seine Hände vollziehen bei den vielen Übergreifu­ngen mit geschmeidi­gen Bewegungen grazile Tänze. Vor der zehnten Variation, dem dritten Kanon, muss der Pianist sein Jackett ausziehen, weil er ins Schwitzen gerät. Vor der langen und dunklen 25. Variation braucht er eine lange Pause zum Atemholen. Was danach kommt, ist ein äußerst beglückend­er Ritt aus dem Schatten hinein ins Licht des strahlende­n Quodlibet-Finales. Selten war ein Applaus so stürmisch und tosend wie dieser.

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