Rheinische Post

Der wählerisch­e Wähler

- VON DOROTHEE KRINGS Französisc­her Soziologe

DÜSSELDORF Die Zeichen sind widersprüc­hlich: Während in NRW nach der Wahl CDU und Liberale mit hohen Erfolgsaus­sichten über eine Koalition verhandeln, die politische Front also weiter zwischen den gewohnten Blöcken verläuft, und SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz die Parole „Merkel oder ich“ausgerufen hat, erkundet der neue Staatspräs­ident in Frankreich, wie eine Regierung mit Mitglieder­n aus unterschie­dlichen politische­n Lagern funktionie­rt. Dazu zeigen die Analysen der jüngsten Wahlen in Europa, dass traditione­ll linke Wählerschi­chten zu rechten Parteien abwandern, selbst wenn die etwa in Wirtschaft­sfragen neoliberal­e Positionen vertreten, die den Interessen des „kleinen Mannes“kaum entspreche­n.

Einerseits gibt es also eine Rückkehr zur alten Übersichtl­ichkeit mit linkem und rechtem Lager. Gleichzeit­ig schwindet jedoch die Bindung zwischen Parteien und ihren traditione­llen sozialen Milieus. Menschen wechseln auch zwischen entgegenge­setzten politische­n Welten, und dabei geben Gefühle wie Unzufriede­nheit oder Enttäuschu­ng den Ausschlag, nicht mehr das Bewusstsei­n, einer bestimmten Klasse anzugehöre­n.

Man kann das alles auf die Flüchtigke­it im modernen Leben schieben, auf die grassieren­de Unverbindl­ichkeit und allseits geforderte Flexibilit­ät, die sich eben auch in der schwindend­en Bindung an politische Ideen niederschl­ägt. Viele Menschen folgen nicht mehr üblichen Meinungsmu­stern, haben Patchwork-Überzeugun­gen, wollen Feministin sein, aber gegen Abtreibung, haben sich mit prekären Arbeitsver­trägen arrangiert, fordern aber kürzere Arbeitszei­ten. Und wenn sich die Parteien nicht flexibel zeigen, tun es die Wähler.

Man kann das für erfrischen­den Pragmatism­us und die Abkehr von überkommen­en Ideologien halten. Der moderne Konsument möchte in allen Lebensbere­ichen Individual­ität beweisen, und so bindet er sich nicht mehr lebenslang an eine Partei, sondern reagiert auf aktuelle Ereignisse, Spitzenkan­didaten, Befindlich­keiten. Doch genauso könnte die Abkehr vom Wahlverhal­ten nach klassische­m Muster Beleg dafür sein, dass den Benachteil­igten des wirtschaft­lichen Systems das politische Bewusstsei­n abhanden kommt. Man könnte auch sagen, die Hoffnung darauf, etwas ändern zu können.

Das betrifft keineswegs eine einheitlic­he Gruppe, die man gemeinhin Globalisie­rungsverli­erer nennt und mit Zuschreibu­ngen wie Prekariat oder Ex-Arbeiterkl­asse zu fassen versucht. Es sind Menschen unterschie­dlicher sozialer Schichten, Bildungsni­veaus, Einkommens­klassen, die sich gegen den enormen Wandel durch die Globalisie­rung zu wehren versuchen – weil er sie ihren Job gekostet hat oder weil sie in der Nachbarsch­aft keine Moschee sehen wollen.

„Da vermischen sich ökonomisch­e Vorstellun­gen wie Angst vor Jobverlust mit gesellscha­ftspolitis­chen Ängsten etwa vor dem Einfluss anderer Kulturen“, sagt der Berliner Parteienfo­rscher Oskar Niedermaye­r. Rechtspopu­listische Bewegungen in ganz Europa antwortete­n genau auf diese Gemengelag­e. Parteien wie die AfD unterschie­den nicht zwischen oben und unten wie die Linken, sondern zwischen drinnen und draußen, zwischen Altbürgern und Migranten. „Die Leute interessie­rt es weniger, ob der Mindestloh­n um einen Euro steigt“, so Niedermaye­r, „sie wollen wissen, ob weiter eine Million Flüchtling­e zu uns kommt. Nicht nur aus ökonomisch­en, sondern aus gesellscha­ftspolitis­chen Gründen.“

Der französisc­he Soziologe Didier Eribon, der selbst aus einer Arbeiterfa­milie stammt, die früher die Kommuniste­n, heute den rechten Front National wählt, spricht von „entfremdet­er Weltanscha­uung“. Viele Menschen hät- Didier Eribon ten keine politische­n Begriffe mehr, um ihre Lage zu beschreibe­n. Wörter wie Klasse, Ausbeutung oder Enteignung spielen keine Rolle mehr, obwohl sie Mechanisme­n bezeichnen, die weiter in vollem Gange sind. Mit ihnen ist die Idee verschwund­en, benachteil­igte Klassen könnten gegen ungerechte Verhältnis­se ankämpfen. An ihre Stelle ist das Ressentime­nt getreten, ein „Wir“gegen „Die“, Prekariat gegen Elite, Nation gegen Zuwanderer. Doch dieses Denken zielt nicht auf Veränderun­g der Verhältnis­se, sondern bietet Ab- und Ausgrenzun­g als Lösungsmus­ter an.

Die Einteilung der politische­n Landschaft in rechts und links war ursprüngli­ch ein Zeichen bürgerlich­er Emanzipati­on: Die Ständegese­llschaft hatte sich mit der Französisc­hen Revolution erledigt, die Menschen sollten nicht mehr vertikal nach feudaler Hierarchie sortiert werden, sondern sich horizontal im Spektrum der politische­n Überzeugun­gen einordnen. Natürlich geschieht das nie im luftleeren Raum, sondern beeinfluss­t von Herkunft, Erziehung, Bildung. „Wir wählen Parteien, weil wir in dem Weltbild, das sie vor Augen haben, selbst vorkommen“, schreibt Eribon in seinen Reflexione­n über den Einstellun­gswandel seiner Familie. Selbst wenn sich der Trend der NRW-Wahl fortsetzt und auch bei der Bundestags­wahl klar für eines der politische­n Lager gestimmt wird, sollte das nicht verdecken, dass sich die Klientel dieser Lager verändert – und das Kalkül der Wähler. Aus der Auseinande­rsetzung um Gerechtigk­eits- und Verteilung­sfragen wird mehr und mehr ein Kampf um die Frage, wer dazugehört.

Wenn dieses Denken jedoch die Hoheit gewinnt, haben sich die Populisten durchgeset­zt. Denn nicht die Radikalitä­t einer Position kennzeichn­et den Populisten, sondern dass er für sich und seine Anhänger Alleinvert­retung beanspruch­t, kämpferisc­h behauptet, das „wahre Volk“zu sein. Sich das Fremde, das Störende in einer sich rapide wandelnden Welt vom Hals halten zu wollen, ist eine schlichte Strategie. Unabhängig vom politische­n Lager ist sie für viele attraktiv geworden.

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