Rheinische Post

Die Befreiung vom IS schafft neue Grenzen im Nordirak

Eine aufgeschüt­tete Böschung markiert die Trennlinie zur autonomen Kurdenregi­on. Manche Dörfer sind voneinande­r abgeschnit­ten.

- VON BALINT SZLANKO

ABU DSCHARBUA (ap) Omar Raschads Mähdresche­r rumpelt über das Gerstenfel­d. Der Bauer schützt seine Augen mit vorgehalte­ner Hand gegen die grelle Sonne und weist auf eine hohe Böschung am Ende seines Ackers. Sie markiert die Grenze zwischen dem von der Zentralreg­ierung gesteuerte­n Irak und der autonomen Kurdenregi­on im Norden des Landes. Sie wurde im November gebaut, nachdem kurdische Peschmerga-Kräfte mit Unterstütz­ung der US-geführten Koalition nahe Mossul rund fünf Kilometer in die Ninive-Ebene vorgestoße­n waren und dort mehrere von der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) kontrollie­rte Städte und Dörfer zurückerob­ert hatten.

Jetzt liegt mehr als die Hälfte von Raschads Land, etwa 20 Hektar, auf der anderen Seite der Linie, auf der irakischen Seite. Sie zu überqueren, ist komplizier­t, erfordert eine tägliche Genehmigun­g sowohl von kurdischen als auch irakischen Stellen, und Raschad hat das aufgegeben. „Das ist unser Dorf, und hier ist die Böschung. Sie teilt unser Land in zwei Hälften“, sagt der Mann, ein Iraker, der ins kurdische Territoriu­m geflüchtet war, als die IS-Kämpfer in seine Stadt zogen. „Es ist unser Land, und wir wollen es bebauen und ernten. Aber jetzt können wir es nicht. Man kann sagen, dass wir diese Hälfte verloren haben.“

Seit 2014 haben die irakischen Kurden das von ihnen kontrollie­rte Gebiet etwa um die Hälfte ausgeweite­t, auf Kosten des Irak. Der Status einiger dieser Territorie­n, so etwa die Stadt Kirkuk, soll laut irakischer Verfassung in Volksabsti­mmungen festgelegt werden. Andere Gebiete, darunter der größte Teil des Gouverneme­nts Ninive, gehören technisch zum Irak. Die Böschung, mit befestigte­n Stellungen alle etwa 500 Meter, zerschneid­et das Land in einer fast geraden Linie. Sie trennt manche Gemeinden von deren Land und von behördlich­en Einrichtun­gen. „Wenn Du etwas auf der anderen Seite tun willst, kannst Du es nicht“, schildert Raschad. „Die Böschung hat alles gelähmt. Dies ist mein Land, das Land meines Vaters und Großvaters, wie können sie es teilen?“

Auf der irakischen Seite der Böschung, im Dorf Darawisch, ist der Bauer Raad Chalil mit einem zusätz- lichen Problem konfrontie­rt. Er hat nicht nur Zugang zu acht Hektar Land verloren und muss sich daher nun bei seinem Lebensunte­rhalt auf Hilfe stützen. Darüber hinaus ist er auch noch von seiner kommunalen Regierung abgeschnit­ten. „Alle Regierungs­funktionen sind in Baschika“, sagt er. Die größte Stadt in dem Gebiet liegt nun auf der kurdischen Seite der Linie. „Gesundheit­sversorgun­g, Bildung, Elektrizit­ät. Jetzt muss man deswegen nach Mossul, aber dann wird Dir gesagt, dass wir zu Baschika gehören und ich dahin gehen muss“, klagt er.

Vom irakischen Teil in die Kurdenregi­on zu gelangen, ist noch komplizier­ter als umgekehrt, weil die Peschmerga da- für eine kurdische Wohngenehm­igung oder eine Art Bürgen verlangen. Aber nicht alle stoßen sich an der Teilung, zumindest derzeit. Schamsaddi­n Nuraddin, ein Kurde, ist just in Abu Dscharbua auf der irakischen Seite eingetroff­en, um an der Beisetzung eines Verwandten teilzunehm­en. Die nötige Genehmigun­g hat er bekommen. Er hoffe, dass die Böschung eines Tages ent- fernt werde, sagt er. Aber im Augenblick gebe sie ihm ein sichereres Gefühl, denn er fürchte, dass es auf der irakischen Seite noch IS-Schläferze­llen geben könnte.

Dass sich die Bevölkerun­g in diesen Ortschafte­n aus Angehörige­n der kurdischsp­rachigen sunnitisch­en und schiitisch­en SchabakMin­derheit zusammense­tzt, macht die Situation noch heikler. Während die meisten Schiiten vor dem IS flohen, sind viele der Sunniten geblieben, und das hat Misstrauen innerhalb der Schabak-Gemeinscha­ft gesät. Raschad, ein sunnitisch­er Muslim, ist einmal in sein Dorf zurückgeke­hrt, aber einige seiner schiitisch­en Nachbarn hätten klargemach­t, dass er nicht willkommen sei, erzählt der Bauer. Er trage jetzt zur Sicherheit eine Pistole bei sich. „Es ist so, als wenn ein Mensch in zwei Hälften geschnitte­n worden ist, das ist genau das, was uns widerfahre­n ist“, sagt Raschad. „Die Schabak sind eine Minderheit, der diese Rivalität Schaden zugefügt hat.“

Was sich derzeit im Norden des Irak abspielt, könnte das Land am Ende zerreißen. Wenn es nicht gelingt, einen Ausgleich zwischen den Schiiten und der Minderheit der Sunniten zu finden, die in einigen Regionen aber die Mehrheit stellen, dann könnte das die Rufe nach einem Unabhängig­keitsrefer­endum lauter werden lassen – ähnlich wie es die Kurden fordern. Einer, der dies bereits offen angesproch­en hat, ist der ehemalige Gouverneur von Ninive, Athil al Nudschaifi. „Wir brauchen Bagdad nur noch, um die Grenzen zu schützen“, sagte er.

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