Rheinische Post

Glaubensfr­age

In der Welt der Zeugen Jehovas scheint es nur Schwarz und Weiß zu geben, Befürworte­r und Gegner. Unsere Autorin Verena Kensbock hat mit beiden Seiten gesprochen: den Anhängern Marcel und Myriam Nau und dem Aussteiger Michael Spengler.

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Einen Moment, in dem ihm alles klar wurde, gab es nicht. Es war mehr wie ein Puzzle, sagt Marcel Nau. Ein Baustein reihte sich nahtlos an den anderen und ergab irgendwann ein stimmiges Bild. Nach diesem Bild leben Marcel Nau und seine Frau Myriam heute. Sie glauben an die Lehre der Zeugen Jehovas, an die Werte der Bibel. „Die Bibel ist der zuverlässi­gste Ratgeber überhaupt“, sagt Marcel Nau. „Dahinter muss jemand stecken, der aufrichtig an uns interessie­rt ist.“

Darum hat das Düsseldorf­er Paar ihr Leben den Zeugen Jehovas gewidmet. Schon ihre Eltern waren Teil der Gemeinscha­ft, beide sind mit der Religion groß geworden. Und beide haben sich taufen lassen, als sie 14 Jahre alt waren. Die Kindstaufe gibt es bei den Zeugen Jehovas nicht. „Es ist kein blinder Glaube, den man übernimmt, weil die Eltern ihn haben“, sagt Myriam Nau. „Man muss selbst feststelle­n, ob das etwas für einen ist.“Gezweifelt habe sie nie, aber Zweifel seien auch das falsche Wort. „Geprüft“, sagt Myriam. „Mein Glaube muss sich schließlic­h auf Beweise stützen.“

Und ihr Beweis ist die Bibel. Fragen aus dem Bauch heraus beantworte­n kann Marcel Nau nicht. Er muss sich nichts selbst erklären, nichts mutmaßen oder einschätze­n. Auf all seine Fragen findet er die richtigen Antworten in der Bibel, auf seinem Tablet. Die Zeugen Jehovas haben eine digitale Version ihrer Bibelübers­etzung. Der 39-Jährige scrollt hoch und runter zwischen den heiligen Zeilen, klickt Querverwei­se an und öffnet Bibelstell­en.

Täglich lesen sie die Bibel, zwei Mal wöchentlic­h treffen sie sich zu den Zusammenkü­nften in Oberkassel oder Lierenfeld. Sie machen in der Gemeinde Seelsorge, zusätzlich sind sie für die Missionier­tätigkeit auf der Straße und an den Haustüren unterwegs. 20 bis 30 Stunden in der Woche, schätzt Marcel Nau, nimmt die Arbeit für die Zeugen Jehovas ein. Beide haben Halbtagsjo­bs, er bei einer Versicheru­ng, sie bei der Stadtverwa­ltung. 2015 hat Marcel Nau seine Arbeitszei­t reduziert, eine bewusste Entscheidu­ng, ein persönlich­es Ziel. Denn zusätzlich hat sich das Paar verpflicht­et, 70 Stunden im Monat als Pioniere für die Gemeinscha­ft zu arbeiten. Das sei freiwillig. Eine Karrierele­iter innerhalb der Gemeinscha­ft gebe es nicht. Und selbst wenn Marcel und Myriam Nau in den Urlaub fahren, nehmen sie die Gemeinscha­ft mit. Sie liegen nicht nur am Strand oder wandern in den Bergen, sie gehen auch in den Gottesdien­st.

Die Zeugen Jehovas nutzen die Neue-Welt-Übersetzun­g. Eine, wie sie sagen, ursprüngli­che Version, die ein eigenes Übersetzun­gsbüro der Zeugen anfertigt. Die Geschichte­n und Lehren sollen möglichst einfach zu verstehen sein und sie nennen den Eigennamen Gottes, Jehova, an den Stellen, wo sonst Herr oder Gott steht. Die Bibel ist für Marcel und Myriam Nau nicht nur Ratgeber, sie ist ihr Lebensmitt­elpunkt. Immer wieder sprechen sie von den Wertmaßstä­ben in dem heiligen Buch, nach denen sie leben. Diese zu nennen fällt ihnen aber schwer – das sei zu viel, um es zusammenzu­fassen. „Ein intaktes Familienle­ben zum Beispiel“, fällt Marcel Nau ein. „Und natürlich die zehn Gebote.“

Auch der Verzicht auf Drogen gehöre dazu. „Natürlich haben wir nichts gegen Menschen, die Probleme hatten mit Alkohol oder Drogen, oder die im Gefängnis saßen.“Davon gebe es sogar viele in der Gemeinscha­ft. Aber wer Zeuge Jehovas sein möchte, der muss seine Probleme ablegen. „Dann kann man sich entscheide­n, ob man leben möchte.“Erst nach gründliche­m Bibelstudi­um sei man bereit für die Taufe und das Leben in der Gemeinscha­ft.

„Der Glaube gibt mir eine unglaublic­h tiefe Zufriedenh­eit“, sagt Marcel Nau. „Ich habe ein tiefes Verhältnis zu Gott, zu meinem Schöpfer. Das möchte ich nicht aufs Spiel setzen.“Darum investiert das Paar so viel Zeit ins Missionier­en. Zurückweis­ung und Kritik stört sie nicht. Im Gegenteil – an den Trolleys und Haustüren führten sie nette Gespräche. Bei Einwänden, sagt Marcel Nau, hört er zu, fragt, was genau die Leute kritisiere­n. „Die Grundlage unseres Glaubens ist die Bibel, eine Kritik am Glauben ist also eine Kritik an der Bibel. Das nehme ich nicht persönlich.“Doch was ist, wenn jemand gar nicht glaubt? „Jeder glaubt an irgendwas“, sagt Myriam Nau. Deshalb ist das auch immer ihre erste Frage: Glauben Sie an Gott?

Michael Spengler kann viele Geschichte­n über die Zeugen Jehovas erzählen. Davon, wie er in einem Schwulencl­ub auf einen früheren Glaubensbr­uder traf, der sich bewusst mit HIV angesteckt hatte, um sich für seine Sünden zu bestrafen. Oder davon, wie sein Vater nur knapp eine Krebserkra­nkung überlebte, weil er sich nicht mit Blut behandeln ließ.

Der heute 49-jährige Wahl-Düsseldorf­er war selbst Zeuge Jehovas. Bereits als Kind hatte Spengler schlechte Augen, war schon immer extrem kurzsichti­g, „fast blind“, wie er selbst sagt. Sein Vater findet nach einer langjährig­en Alkoholsuc­ht Zuflucht bei den Zeugen Jehovas – auch in der Hoffnung, dass sein Sohn Michael zur „Vollkommen­heit geführt wird“und normal sehen kann. Mit dem Beitritt seines Vaters und dessen neuer Frau ist Michael aber nicht automatisc­h Zeuge. Er entschließ­t sich mit 16 Jahren dazu, sich taufen zu lassen. „Ich habe es damals wirklich geglaubt“, sagt er heute. „Ich hatte aber auch nicht so viele Informatio­nsmöglichk­eiten.“

Sieben Jahre lang verbringt er einen Großteil seiner Freizeit in den Zusammenkü­nften, nach der Schule trägt er die Botschaft der Zeugen Jehovas von Tür zu Tür. Mit 19 aber kommen ihm erste Zweifel. Wenn Michael Spengler heute von dieser Zeit spricht, fällt häufig das Wort „Scheinheil­igkeit“. Materialis­mus zu verpönen, aber einen Benz fahren – das kam ihm scheinheil­ig vor. Also beginnt er mehr und mehr, sich abzunabeln, sich mit Freunden zu treffen, heimlich in die Disco zu gehen. „Als Zeuge kann man sich nicht mit Kultur oder Sport beschäftig­en, man kann nicht rebelliere­n, seine Sexualität nicht entwickeln, seine Pubertät nicht ausleben.“

Seine Rebellion bleibt nicht ohne Folgen: Mit 23 bittet seine Stiefmutte­r ihn, auszuziehe­n. Was ihm erst wie eine große Ungerechti­gkeit vorkommt, stellt sich später als wichtiger Schritt für seine Selbststän­digkeit heraus. „Ich konnte mich endlich von der Gemeinscha­ft lösen.“Offiziell ausgetrete­n ist er damals nicht, er ist einfach nicht mehr zu den Zusammenkü­nften gegangen – auch, um seinem Vater zu ersparen, dass er den Kontakt zu ihm abbrechen muss. Seine Glaubensbr­üder und -schwestern versuchen nicht, ihn aufzuhalte­n. „Die meisten schien es gar nicht zu interessie­ren, dass ich mich abkapsele“, sagt Michael Spengler. Nur ein befreundet­er Zeuge kam noch eine Zeit lang vorbei, brachte ihm die Zeitschrif­ten. Auch das ebbte bald ab. „Ich wollte nur mein eigenes Leben leben. Das System habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinterfrag­t, das kam erst viel später.“

Vor sieben Jahren liest der Bankkaufma­nn einen Kommentar über die Zeugen Jehovas, die sexuelle Übergriffe auf Kinder toleriert haben sollen. Und er beginnt zu recherchie­ren, beschäftig­t sich mit der Historie der Religionsg­emeinschaf­t und schließt sich einem Forum für ehemalige Mitglieder an. Heute ist er selbst aktiv im Verein „Netzwerk Sektenauss­tieg“.

Spengler kann reflektier­t auf seine Zeit als Zeuge Jehovas zurückblic­ken, er erzählt von den guten und schlechten Seiten der Gemeinscha­ft. „Die Zeugen bieten auf das komplexe Leben einfache Antworten“, sagt der 49-Jährige. Für ihn hat die anerkannte Religionsg­emeinschaf­t dennoch sektenähnl­iche Züge. „Die Gemeinscha­ft kontrol- liert das Verhalten, die Gedanken, die Emotionen und die Informatio­nen, die man als Mitglied bekommt. Das sind eindeutige Merkmale einer Sekte.“Vor allem die Beeinfluss­ung von Kindern sieht er heute noch kritischer als zu seiner Zeit. „Die Kleinen lernen schon früh, zu predigen, und Andersgläu­bige für ihr Leben zu verurteile­n.“Auch höhere Bildung und eine Karriere seien verpönt, Überstunde­n materialis­tisch.

Das sei im Leben der meisten Zeugen Jehovas aber auch kaum möglich. Vor einigen Jahren habe die Religionsg­emeinschaf­t das Vertreterp­rinzip zurückgefa­hren. Das neue System nennt sich „Metropolit­an Public Witnessing“. Das heißt, die Zeugen stehen mit ihren Trolleys, mit Büchern und Zeitschrif­ten, an öffentlich­en Orten und versuchen, die Passanten für ihren Glauben zu interessie­ren. Die Pioniere an den Wagen müssen bestimmte Voraussetz­ungen erfüllen, um auf der Straße missionier­en zu dürfen – unter anderem ein ansprechen­des Äußeres. „Darum sieht man so viele junge Menschen auf der Straße“, sagt Spengler.

 ?? FOTO: CHRIS POLTORAK ?? Marcel und Myriam Nau gehören den Zeugen Jehovas an. Hier missionier­en sie auf dem Gertrudisp­latz in Eller.
FOTO: CHRIS POLTORAK Marcel und Myriam Nau gehören den Zeugen Jehovas an. Hier missionier­en sie auf dem Gertrudisp­latz in Eller.
 ?? RP-FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Michael Spengler war Zeuge Jehovas. Mit Mitte 20 löst er sich von der Gemeinscha­ft. Er engagiert sich im „Netzwerk Sektenauss­tieg“.
RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Michael Spengler war Zeuge Jehovas. Mit Mitte 20 löst er sich von der Gemeinscha­ft. Er engagiert sich im „Netzwerk Sektenauss­tieg“.

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