Daimler-Manager zum Rapport bestellt
Verkehrsminister Dobrindt fordert Aufklärung darüber, ob wirklich eine Million Dieselautos des Stuttgarter Konzerns von Abgasmanipulationen betroffen sind. Die EU-Kommission verlangt Taten.
BERLIN Nach Bekanntwerden von Ermittlungen wegen möglicher Abgasmanipulationen bei Daimler mussten Verantwortliche des Konzerns gestern Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) Rede und Antwort stehen. Bei einer Sondersitzung der Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des Abgasskandals ging es genau um diese Vorwürfe, hieß es.
Zuvor hatten WDR, NDR und „Süddeutsche Zeitung“darüber berichtet, dass bei mehr als einer Million Fahrzeuge Motoren mit manipulierten Abgaswerten eingebaut sein könnten. Sie berufen sich auf einen Durchsuchungsbericht des Amtsgerichts Stuttgart. Neu ist der Vorwurf nicht, die Dimension von einer Million Autos indes schon. Bei einem freiwilligen Rückruf musste Daimler bereits knapp 250.000 Fahrzeuge nachbessern. Zuvor hatte die Kommission des Ministeriums, die nach Bekanntwerden des VW-Abgasskandals eingesetzt worden war, auch bei anderen Herstellern auffällige Abgaswerte entdeckt.
Den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zufolge soll Daimler von 2008 bis 2016 in Europa und den USA Fahrzeuge mit unzulässig hohem Schadstoffausstoß verkauft haben. Zwei Motorenklassen hätten eine unzulässige Abschalteinrichtung enthalten, mit der die Schadstoffreinigung auf dem Prüfstand eingeschaltet, auf der Straße jedoch weitgehend ausgeschaltet worden sein soll, hieß es. Die Staatsanwaltschaft hielt sich mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen zurück. Auch Daimler wollte sich dazu gestern nicht im Detail äußern, eine Konzernsprecherin teilte lediglich mit: „Wir kooperieren vollumfänglich mit den Behörden. Spekulationen kommentieren wir nicht.“
Für mehrere Mitglieder des abgeschlossenen Untersuchungsausschusses im Bundestag kommen die neuen Erkenntnisse nicht überraschend. Oliver Krischer von den Grünen sagte: „Es bestätigt sich jeden Tag aufs Neue: Das Tricksen und Betrügen bei der Abgasreinigung war nicht nur einen Phänomen von VW, sondern der gesamten Branche.“Dobrindt sei „der Schutzpatron der Trickser und Betrüger“, so Krischer. Auch der Vorsitzende des Abgas-Untersuchungsausschusses Herbert Behrens (Linke) griff Dobrindt an. „Selbst nach dem Auffliegen des Abgasbetrugs bei VW blieb der Verkehrsminister untätig bei der Aufarbeitung der Manipulationen bei anderen Herstellern“, sagte Behrens. „Diese Komplizenschaft muss ein Ende haben und endlich scharf kontrolliert und sanktioniert werden“, so der Linken-Poli- tiker. Die SPD-Abgeordnete Kirsten Lühmann forderte europäische Konsequenzen. „Am Ende ist auch dieser Vorfall ein weiterer Beleg dafür, dass wir die entsprechende EURichtlinie deutlich verschärfen müssen“, sagte Lühmann, die auch im Untersuchungsausschuss saß.
Um die Emission von Stickoxiden und Feinstaub zu reduzieren, denken die Autokonzerne inzwischen offenbar auch über eine Nachrüstung älterer Dieselfahrzeuge in der gesamten EU nach. Industrie-Kommissarin Elzbieta Bienkowska fordert diese Lösung seit Langem. „Wir müssen so schnell wie möglich nicht-zulässige Fahrzeuge aus dem Umlauf nehmen“, sagte sie: „Außerdem braucht es zusätzliche freiwillige Maßnahmen der Automobilhersteller, um schnell die Stickoxidemissionen der bestehenden Dieselflotte in Europa zu reduzieren.“Dass die Autokonzerne nun Nachrüstungen planen, begrüßt Bienkowska: „Ich sehe, dass die Industrie langsam die kollektive Verantwortung für den Abgasskandal übernimmt. Besser spät als nie.“
DÜSSELDORF Das Team von Sandra Maischberger hatte wie immer gute Vorarbeit geleistet. Die Gästeliste für den Mittwochabend stimmte. Platzkarten brauchten die geladenen Talker nicht. Auch das Thema des Abends war gut gewählt, immerhin ist die Debatte über die Eskalationen rund um den G 20-Gipfel brandaktuell. Und obwohl die ARD-Moderatorin während der Talkrunde ins Schwimmen geriet und hinnehmen musste, dass ihr die Sendung mehr und mehr entglitt: Viel besser hätte es zumindest aus Sicht der Redakteure nicht laufen können.
Im Laufe des Abends konnte Sandra Maischberger vor allem den Streit zwischen CDU-Politiker Wolfgang Bosbach und der Publizistin Jutta Ditfurth zu keiner Zeit moderieren. Nach etwa einer Stunde verließ Bosbach das Studio – wutentbrannt und empört. Er warf Jutta Ditfurth vor, den ebenfalls anwesenden Hamburger Hauptkommissar Joachim Lenders „in geradezu unverschämter Weise angegangen“zu sein. Ihre provokative Mimik sei für ihn „einfach zu viel“gewesen. Ditfurth hatte der Polizei vorgeworfen, Aggression geschürt und Gewalt provoziert zu haben.
Doch eine richtige Debatte über die Konsequenzen aus den Krawallen in Hamburg kam nicht einmal ansatzweise zustande. Vielmehr ging es den Gästen darum, die Geschehnisse noch einmal aus ihrer Sicht zu schildern. Die Schuldfrage wurde von der Polizei zu den linken Autonomen und wieder zurück geschoben. Jeder Gast debattierte für sich, mit allen Mitteln, meist in deutlich erhöhter Lautstärke – und ohne irgendeine Form der gepflegten Kommunikation zu beachten.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Kommunikationswissenschaftler Claude Elwood Shannon und Warren Weaver das simpelste aller Kommunikationsmodelle skizziert: Der Sender verfasst eine Nachricht. Der Empfänger nimmt sie auf. Sprechen und zuhören. Friedemann Schulz von Thun hat diese Idee im „Vier-SeitenModell“erweitert. In der Mitte steht die Aussage. Der Sender vermittelt den Sachinhalt, gleichzeitig aber auch Informationen über sich selbst, er appelliert und sendet Informationen über seine Beziehung zum Gegenüber. Damit nun all diese Informationen auch ankommen, muss aber der Zuhörer ebenso auf allen vier Ebenen empfangsbereit sein. In der abendlichen Fernsehtalkshow gelingt dies so gut wie nie, weil sie darauf erst gar nicht ausgelegt ist.
Rhetorikprofessor Joachim Knape von der Uni Tübingen nennt den Polit-Talk ein Phänomen: „Die Talkshow hat das Parlament als Träger der politischen Kommunikation ersetzt“, sagt Knape. „Wer schaut sich schon Bundestagsdebatten live im Fernsehen an?“
Das Konzept ist fast identisch: Politiker, Interessensvertreter oder Fachleute nutzen eine Bühne, um eigene Thesen – oder die der Partei – der Öffentlichkeit mitzuteilen. Im Bundestag werden allerdings wirklich Entscheidungen getroffen. Hier passiert etwas, während der Talk auf der Ebene des inszenierten Dramas verharrt. Kritisch ist, dass die Politik hier ihre Hoheit preisgibt: Sie unterwirft sich Redakteuren und letztlich dem Moderator, der als „Gatekeeper“(deutsch: Schleusenwärter) der Botschaft auftritt. Der Zuschauer kann keine lösungsorientierte Diskussion erwarten, weil sie nicht erwünscht ist. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Diskussion im Fernsehen auf das gemeinsame Klären einer Fragestellung abzielt“, sagt Knape.
Das Genre der politischen Talkshow ist kaum zu bestimmen. Sie liegt zwischen Entertainment und Information. Und genau das ist ihr Problem: Es werden keine echten Debatten geführt, sondern es wird Streit im inszenierten Raum provoziert. Das ist politisches Theater auf der Mattscheibe. Der Zuschauer will ja eine Stunde, oder wie bei Maischberger rund 75 Minuten, unterhalten werden. Das Interessante ist dabei die größtmögliche Konfrontation, nicht die Lösung eines Problems. Die Besetzung der Runde ist bewusst gewählt. So versuchen Fernsehmacher möglichst kontroverse Gäste einzuladen, am besten mit unterschiedlichem Seriositätsgrad. „Je schriller, desto besser“, sagt Joachim Knape. Meinung ist dabei gut, der Eklat ist noch besser. Bei Maischberger allerdings eskalierte die Zusammensetzung bis zum Gau: CDUPolitiker Bosbach steht bekanntermaßen für konservative Ansichten. Andererseits weiß man, dass es krachen kann, wenn Ditfurth anarchische Ideale vertritt. In den seltensten Fällen kann der Zuschauer aus solchen TV-Streits einen eigenen Standpunkt entwickeln.
Wolfgang Bosbach müsste all das eigentlich wissen. Der 65-Jährige gilt als „Talkshow-König“. Zwischen 2012 und 2016 war kein Politiker so häufig in einem Talk wie er. Am Mittwoch aber scheint selbst dem Talk-Profi das respektlose Miteinander zugesetzt zu haben. Zwar wirkte sein Abgang wie der Gipfel der Selbstinszenierung eines Politikers. Doch es zeugte auch von echter Empörung darüber, dass keine gepflegte Debatte unter gebildeten Menschen möglich war. Maischbergers nachträgliche Entschuldigung, gestern auf Facebook veröffentlicht, fällt da eher heuchlerisch aus, wenn Krawall den Reiz einer Sendung ausmacht. „Das ist immer eine Niederlage in einer Sendung, deren Aufgabe es ist, Menschen ins Gespräch zu bringen “, heißt es.
Bedauerlich ist: Der Gesprächsabbruch macht die fehlgeschlagene Kommunikation für alle ersichtlich. Selbst für Jutta Ditfurth ist das problematisch, bleibt sie doch als unglaubwürdig und nicht diskussionsfähig zurück. Die „Maischberger“-Redaktion darf sich über Aufmerksamkeit freuen. Die Sendung war eine gelungene politische Komödie. Nur der Applaus bleibt aus. Weil der Preis der Diskussionskultur zu hoch ist – und der Zuschauer mal wieder ratlos zurückbleibt.
„Es ist eine Illusion zu glauben, die Diskussion ziele auf das gemeinsame Klären einer Fragestellung ab“Joachim Knape Rhetorikprofessor