Rheinische Post

Die neue Heimat am Rhein

Die Familie Osman floh von Syrien nach Deutschlan­d. Mittlerwei­le hat sie eine Wohnung in Düsseldorf..

- VON ALESSA BRINGS

Sie sitzen in ihrem Wohnzimmer in Eller auf dem Sofa. Mutter, Vater und zwei Söhne. Die Tochter ruft regelmäßig an. Auf dem Tisch stehen eine gefüllte Obstschale, Kekse und Streuselku­chen. Eine ganz normale Familie, möchte man meinen, doch das, was „Normalität“genannt wird, hat Familie Osman vor langer Zeit verloren.

Familie Osman kommt aus Syrien. Vater Abdulsamed hatte eine eigene Firma für Klimaanlag­en und Heizungen und verdiente sehr gut. Die Familie lebte in einer Villa in Damaskus. Im Garten gab es einen Pool. „Wenn ich früher zu Papa ging und eine besondere Sache kaufen wollte, war das kein Problem“, sagt Mohamed, der älteste Sohn. Seine privilegie­rte Lage, die es ihm ermöglicht­e, sich jeden Wunsch zu erfüllen, hat er als Junge nicht sonderlich zu schätzen gewusst. Die erkannte er erst in Deutschlan­d. „Jetzt auf finanziell­e Unterstütz­ung angewiesen zu sein, ist wirklich hart“, sagt er. Mohamed ist 17 Jahre alt, wirkt aber älter und erwachsene­r. In Düsseldorf übernimmt der Schüler viel Verantwort­ung für die Familie. Er spricht mittlerwei­le gut Deutsch und kümmert sich um die Post, Organisato­risches und klärt offene Fragen.

Er war es, der in den letzten Sommerferi­en den Brief des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e öffnete. Die Familie soll Deutschlan­d innerhalb eines Monats verlassen, stand darin. Der Asylantrag wurde abgelehnt. „In dem Moment war ich so wütend, dass ich am liebsten sofort meine Koffer gepackt hätte und wirklich gegangen wäre“, sagt er und verschränk­t seine Arme vor der Brust. „Wir haben nie Blödsinn gemacht wie andere Leute hier. Wir möchten studieren und arbeiten – und dann sind wir es, die gehen müssen?“

Mohamed wandte sich sofort an Herbert Prickler. Den Vize-Bürgermeis­ter von Eller hatte die Familie in der Flüchtling­sunterkunf­t kennengele­rnt. Prickler arbeitet ehrenamtli­ch und sehr engagiert für die Flüchtling­e, und besonders die kurdische Familie aus Syrien hat es ihm angetan. Seit mehr als einem Jahr betreute er die Osmans schon, und als der Brief eintraf, zögerte er nicht und schaltete einen Anwalt ein. Die Familie soll in Deutschlan­d bleiben, die Begründung ist die Traumatisi­erung der Familie und die notwendige Stabilität, damit sie sich erholen kann. „Geschickt“nennt Prickler den Anwalt. Erfolgreic­h war er auch: Das Abschiebev­erfahren wurde eingestell­t. Vorläufig dürfen Osmans in der Landeshaup­tstadt bleiben.

Als die Familie Düsseldorf erreichte, war Mohamed 15 Jahre alt. Sein Bruder Ahmad war zwölf. Weder sie noch die Eltern sprachen Deutsch. Über die Aufnahmest­ation am Flughafen gelangten sie in die Zeltunterk­unft in Eller, wo sie Herbert Prickler begegneten. „Damals haben wir uns mit Händen und Füßen verständig­t“, sagt Prickler. Heute kann er darüber schmunzeln. Damals aber war dieser erste Kontakt von großer Ernsthafti­gkeit. Denn die Familie dringend medizinisc­he Hilfe.

Ahmad ist als kleines Kind in Syrien beim Spielen auf eine Landmine getreten, die ihm den rechten Fuß zerfetzte. Er wurde operiert, doch der Fuß blieb missgebild­et und die lange Flucht aus Syrien, auf der die Familie kilometerw­eite Fußmärsche zurücklegt­e, hatte ihm starke Schmerzen verursacht. Im Zelt der Unterkunft wollte der heute 14-Jährige nicht einmal nachts im Bett seine Schuhe ausziehen, weil er sich für seinen verletzten und durch die Operation missgebild­eten Fuß schämte.

Nur durch Pricklers behutsames wie eindringli­ches Zureden zeigte der junge Kurde schließlic­h einem Arzt seinen Fuß. Erst wenn er erwachsen ist, wird Ahmad durch eine weitere Operation von den schlimmste­n Schmerzen befreit und die Fehlstellu­ng verbessert wer- Abdulsamed Osman, 50 Jahre den können. Bis dahin trägt er nun eine Orthese, die in der Uniklinik für ihn angefertig­t wurde und die zumindest Folgeschäd­en für Hüfte und Rücken vermeiden soll.

Auch Mutter Menal wird in Düsseldorf medizinisc­h betreut, seit sie in die Unterkunft in Eller gekommen ist. Ihr Arzt verschreib­t ihr regelmäßig Psychophar­maka. In der ersten Zeit in Deutschlan­d sei Menal sehr ruhig gewesen, sagt Prickler. Nachts hingegen sei sie von Albträumen gequält worden, habe im Schlaf geschrien und geweint. Die Bilder, die sie immer wieder heimsuchte­n, sind die der Hinrichtun­g ihres Schwagers. Er hatte die Politik Syriens kritisiert und war vor Menals Augen geköpft worden.

Bombenangr­iffe zerstörten das Haus der Familie Osman. Sie beschloss, Syrien zu verlassen und vertraute sich einem Schleuser an. Dieser, ein Cousin des Vaters, nahm 30.000 Euro, für die er versprach, sie alle nach Deutschlan­d zu bringen. Er buchte Flugticket­s in die Türkei. Dahin konnte die Familie mit ihren Pässen problemlos reisen.

In der Türkei trennte sich die Familie nach einem Jahr Aufenthalt. Die 26-jährige Tochter Sabrin blieb mit ihrem Mann und dem Neugeboren­en in der Türkei, wo ihr Mann Arbeit gefunden hatte. Der Rest der Familie ging nachts zu Fuß durch Wälder und überquerte die Grenze nach Bulgarien. 30 Leute waren insgesamt auf der Flucht, alle vom selben Schleuser abhängig. Hinter der Grenze warteten Autos und brachten die Flüchtling­e in ein Haus in die Hauptstadt Sofia. Am nächsten Tag sollte es nach Serbien gehen. Doch ihr Schleuser war auf einmal nicht mehr da. „Wir haben ihm fast unser ganzes Geld gegeben. Und er hielt sein Verspreche­n einfach nicht“, sagt Mohamed. Heute noch ist er fassungslo­s über die Dreistigke­it, die der Familie widerfuhr.

Ahmads Fuß bereitete ihm auf dem langen Marsch durch Bulgarien so schlimme Schmerzen, dass er in ein Krankenhau­s musste. 15 Tage lang wurde er dort behandelt, seine Familie blieb so lange in einem Hotel. „Nach den 30.000 Euro für den Schleuser mussten wir dem Krankenhau­s für Ahmads Behandlung 1000 Euro bezahlen und die Hotelrechn­ung kam auch noch dazu“, erzählt Mohamed.

Drei Monate später beschloss die Familie, den Versuch zu wagen, nach Deutschlan­d zu kommen. Ihr Ziel: Düsseldorf. Mohamed war derjenige, der seine Eltern letztlich überredete. „Ich habe früher schon so oft Düsseldorf im Internet angeguckt. Die Stadt gefiel mir schon als Kind sehr gut. Ich wollte hier studieren“, sagt er.

Der 17-Jährige ist sehr ehrgeizig. Herbert Prickler meldete die Brüder im Februar 2016 auf der Dieter-Forte-Gesamtschu­le an. Drei bis vier Monate habe es gedauert, bis sie dem Unterricht folgen konnten, sagen die Brüder. Dann seien die Sprachkenn­tnisse langsam gekommen. Mohamed ist mittlerwei­le auf dem Albrecht-Dürer-Berufskoll­eg, wird aber im August zur Lore-Lorentz-Schule wechseln. Nach dem Abitur will er Ingenieur werden.

Ahmed blieb auf der Dieter-ForteGesam­tschule. Durch die lange Flucht fehlen ihm wichtige Schuljahre, das macht sich vor allem in Mathematik bemerkbar, weil er die Grundreche­narten noch nicht ganz beherrscht. Freiwillig besucht er da- her alle zwei Wochen nachmittag­s und am Wochenende einen Förderkurs in der Schule. Silvia Hirsch, ehrenamtli­che Helferin in Eller, gibt ihm regelmäßig Nachhilfe. Sie und Prickler sind Ansprechpa­rtner für die Osmans. „Nach unserer Geschichte finde ich es schwierig, jemandem zu trauen“, sagt Mohamed, fügt aber gleich hinzu: „Herbert vertraue ich mit geschlosse­nen Augen.“

Besagter Herbert und Silvia Hirsch unterstütz­ten die Familie intensiv bei der Wohnungssu­che. Das Sozialamt macht genaue Vorgaben zu Kosten und Größe einer Wohnung: Die Kaltmiete darf inklusive Nebenkoste­n maximal 805 Euro betragen, die Wohnung soll eine Größe von 90 Quadratmet­ern haben. „In Düsseldorf ein Ding der Unmöglichk­eit“, sagt Prickler. Er gab jedoch nicht auf und kontaktier­te seinen Bekannten Harald Walter. Der hatte eine Wohnung frei, die zwar preislich etwas über dem vorgegeben­en Wert lag, aber gemeinsam fanden Prickler, Walter und das Amt einen Kompromiss: Ein Zimmer wird von der Familie nicht genutzt und muss deshalb nicht bezahlt werden.

Für die Einrichtun­g stellte Silvia Hirsch Möbelanträ­ge beim Sozialamt. Das stellt als Grundausst­attung zur Verfügung: eine Matratze und ein Bett pro Person, einen Herd, eine Spüle, einen Kühlschran­k, einen Esstisch mit sechs Stühlen, ein Sofa, einen Sessel, einen großen Kleidersch­ank und einen Wohnzim- mertisch. Den Rest der Möbel bekam die Familie, weil Hirsch und Prickler in den sozialen Medien einen Suchaufruf starteten. Und weil die Helfer für den ein oder anderen Gegenstand privat aufkamen.

Nun wartet die Familie auf ihre Aufenthalt­serlaubnis, die nach dem Prozess beantragt wurde. In Gedanken sind die Eltern immer bei Tochter Sabrin, die mittlerwei­le mit Mann und Sohn in Griechenla­nd in einer Flüchtling­sunterkunf­t lebt. Als in der Türkei die Stimmung gegen Kurden aggressiv wurde, verlor Sabrins Mann seinen Job. Die kleine Familie floh nach Griechenla­nd, wollte ebenfalls nach Deutschlan­d. Doch sie kam zu spät – die Balkanrout­e war bereits geschlosse­n. In Griechenla­nd erkrankte der Säugling schwer, daher wurde die Familie in ein besseres Flüchtling­sheim verlegt. „Was dort als ,besser’ bezeichnet wird, ist allerdings eine Zumutung“, sagt Prickler, die sich bei einem Videoanruf ein Bild davon machte.

Täglich ruft Sabrin per Skype bei den Eltern an. Ihre Tochter so weit weg und in unsicherer Lage zu wissen, ist für Menal und Abdulsamed schwer zu ertragen. Sehnlichst wünschen sie sich eine Familienzu­sammenführ­ung, doch da Sabrin volljährig ist, ist keineswegs selbstvers­tändlich, dass sie nach Deutschlan­d reisen und dort bleiben darf. Die griechisch­e Regierung plant eine Umsiedlung der jungen Familie nach Litauen, was bei Osmans in Düsseldorf für Verwirrung sorgt. Sie versuchen, den positiven Aspekt, den es gibt, zu sehen: Litauen kann man mit dem Auto in knapp 14 Stunden erreichen.

Unterdesse­n kommt die Familie in Deutschlan­d zusehends mehr an. Die Söhne gehen zur Schule, die Eltern haben schon in der Flüchtling­sunterkunf­t ein wenig Deutsch gelernt. Sobald sie die Aufenthalt­serlaubnis haben, wollen sie die geförderte­n Deutschkur­se des Bundesamte­s besuchen. Abdulsamed möchte so bald wie möglich arbeiten, natürlich am liebsten in seinem alten Beruf, doch er weiß, dass das schwierig wird. Da der 50-Jährige einen internatio­nalen Führersche­in besitzt, hofft Herbert Prickler, dass Abdulsamed einen Job als Fahrer bekommt.

Echte Normalität wird sich bei der Familie wohl nicht so rasch einstellen. Doch die Wogen werden sich vielleicht bald glätten – es braucht viel Zeit und weiterhin die Hilfe ihrer Freunde. Mohamed, 17 Jahre

 ??  ?? Ahmad (14), Mutter Menal (47), Vater Abdulsamed (50) und Mohamed (17) Osman (von links) in ihrem Wohnzimmer. Ihr größter Wunsch ist, dass auch Tochter Sabrin mit ihrer Familie nach Deutschlan­d kommen kann.
Ahmad (14), Mutter Menal (47), Vater Abdulsamed (50) und Mohamed (17) Osman (von links) in ihrem Wohnzimmer. Ihr größter Wunsch ist, dass auch Tochter Sabrin mit ihrer Familie nach Deutschlan­d kommen kann.
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Das Haus der Familie ist nach mehreren Bombenangr­iffen vollständi­g zerstört.
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Eine Erinnerung an das alte Leben: In diesem Haus mit Pool und Garten lebten die Osmans bis zu ihrer Flucht.

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