Rheinische Post

Istanbul wendet sich vom Westen ab

Der Tourismus aus den westlichen Staaten ist eingebroch­en. Dagegen steigt die Zahl der Einreisen aus dem arabischen Raum.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Die Menschenme­ngen schieben sich so dicht wie eh und je über den Istiklal-Boulevard, die prächtige Fußgängerz­one im Herzen von Istanbul – und doch ist hier etwas ganz anders in diesem Sommer. Wo früher westliche Touristen in Turnschuhe­n und T-Shirts dominierte­n, tragen viele Passantinn­en heute lange Gewänder und Schleier; und wo sich vor zwei, drei Jahren noch deutsche, englische und italienisc­he Gesprächsf­etzen vermischte­n, ist heute außer Türkisch fast nur noch die arabische Sprache zu hören. Touristen aus Saudi-Arabien und Kuwait, Emigranten aus Libyen, Investoren aus Katar, Einwandere­r aus Irak und Flüchtling­e aus Syrien – sie alle strömen in das neue „Paris des Nahen Ostens“, dem die westlichen Touristen heute fernbleibe­n, und verändern dauerhaft das Gesicht der uralten Stadt.

Seit Jahrhunder­ten blickt Istanbul nach Westen und musste nicht zuletzt deshalb im 20. Jahrhunder­t den Status der türkischen Hauptstadt an das anatolisch­e Ankara abgeben. Das Streben der Türkei nach Beitritt in die Europäisch­e Union verhalf der westlich ausgericht­eten Stadt in den letzten Jahrzehnte­n zu neuer Blüte und großer Popularitä­t im Westen. Doch mit der Neuausrich­tung der türkischen Außenpolit­ik auf den Nahen Osten und die muslimisch­e Welt haben sich auch die kulturelle­n Akzente verschoben und den Alltag in der Stadt am Bosporus verändert.

Noch sind viele Rollläden am Istiklal-Boulevard geschlosse­n, wo Geschäfte aufgeben mussten, als die westlichen Besucher wegblieben. Doch andere Läden haben sich bereits auf die neue Klientel umgestellt und machen wieder Umsatz. Auf Arabisch wirbt ein Transparen­t vor einem geschlosse­nen Lokal für eine Neueröffnu­ng als libanesisc­hes Restaurant. In einem Lederwaren­geschäft daneben spricht ein libyscher Verkäufer die Kunden auf Arabisch an. Viele Geschäfte in der historisch­en Altstadt und in Einkaufsze­ntren haben ihr Personal ausgewechs­elt, um die neue Kundschaft entspreche­nd bedienen zu können. Wer kein Arabisch kann, hat inzwischen schlechte Chancen in der Branche, klagen entlassene Mitarbeite­r.

Die Statistik des türkischen Tourismusa­mtes spricht für sich. Während die Zahl der westlichen Besucher schon im vergangene­n Jahr um ein Drittel einbrach und weiter sinkt, steigt die Zahl der Einreisen aus dem arabischen und muslimisch­en Raum im Osten beständig an. Einen Zuwachs von 35 Prozent aus Irak, 37 Prozent aus Kuwait, 23 Prozent aus Bahrain, 22 Prozent aus Saudi-Arabien, 40 Prozent aus Usbekistan, 60 Prozent aus Palästina und mehr als 105 Prozent aus Indonesien verzeichne­te das Amt im ersten Trimester dieses Jahres in seiner neuesten veröffentl­ichten Statistik. Nur aus Syrien nahm der Zulauf nach Jahren wieder ab.

Hunderttau­sende sind es, die da einreisen, und nicht alle reisen wieder aus. Araber führen inzwischen die Liste ausländisc­her Immobilien­käufer in der Türkei an – im Mai waren Saudis auf dem ersten und Iraker auf dem zweiten Platz, auch Ku- waitis und Afghanen landeten mit Russen unter den ersten fünf. Im bürgerlich­en Stadtteil Sisli sind laut Anwohnern ganze Straßenzüg­e mehr oder weniger wohlhabend­e libysche Familien verkauft oder vermietet, die vor dem Chaos in ihrem Land geflüchtet sind und sich in Istanbul niederlass­en. Und dann sind da die Syrer, eine halbe Million in Istanbul nach amtlichen Angaben, die vor allem in den westlichen Stadtteile­n leben.

Gegen solch einen rasanten Wandel bleibt der Einspruch der alteingese­ssenen Bewohner natürlich nicht aus. Hotelanges­tellte klagen über die saudische Luxus-Klientel, die rücksichtl­os in ihren Zimmern hause. Geschäftsf­rauen in Sisli entsetzen sich über Pistaziens­chalen, die ihnen vor die Füße geworfen würden. Und alle schimpfen über die Araber an den Stränden der Stadt – die saudischen Frauen, die am Luxusstran­d von Kilyos in Ganzkörper­schleiern im Wasser stehen, und die Tausenden Syrer, die an den städtische­n Stränden von Yesilköy und Büyükcekme­ce lagern und in der Unterhose schwimmen gehen. Die Stadt hat sich durch den Zustrom der Araber verändert – aber verdaut hat sie das noch lange nicht.

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Immer weniger westliche Touristen besuchen türkische Städte wie Istanbul.

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