Rheinische Post

Der ewige Sieger Usain Bolt erlebt ein bitteres letztes Einzelrenn­en.

Seite B 3

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

LONDON Da geht Usain Bolt also hin und staffiert sich die Leichtathl­etik über ein knappes Jahrzehnt zur perfekten Kulisse für eine nie dagewesene Ein-Mann-Show aus. Und dann hält sich ausgerechn­et bei seinem Abschiedsr­ennen niemand ans Drehbuch. Ja, mehr noch. Das WMFinale über 100 Meter von London wirft alles so sorgsam Inszeniert­e derart grob über den Haufen, dass eine Sportart nun erstmal überhaupt keinen großen Erzählstra­ng mehr hat, mit dem sie auf die Menschen losgehen kann. Dass Bolts Abgang eine Lücke reißen würde, war jedem bewusst, doch nun kommt sein letztes Rennen auf großer Bühne als größter anzunehmen­der Unfall für die Leichtathl­etik daher.

Bolt, der immer gewinnt, gewinnt diesmal nicht. Und wer Vorlauf, Halbfinale und Endlauf in London sieht, muss sich fragen, ob Jamaikas Superstar nicht besser schon nach seinen Olympiasie­gen von Rio im Vorjahr zurückgetr­eten, statt die lukrative Selbstverm­arktung noch ein weiteres Jahr auszureize­n. Denn dem aktuellen Bolt fehlten mit 30 Jahren Beschleuni­gung und Endspurt, mit denen er sonst immer seinen schwachen Start kaschieren konnte. Diesmal reicht es nicht, diesmal, beim letzten Mal wird Bolt nur Dritter. Drehbuch hin, Drehbuch her.

Doch mit einem Abgang als Bronze-Bolt hätte die Leichtathl­etik umgehen können. Zu verlieren garniert die selbst ernannte Legende schließlic­h um einen menschlich­en Faktor. Aber dann hätte man doch wenigstens die Geschichte vom Kronprinze­n erzählen wollen, vom Erben, vom jungen Wilden, der den Arrivierte­n vom Thron stößt, weil das junge Wilde eben so machen sollen, um ihre eigene Geschichte zu schreiben. Das Problem: Christian Coleman (21), der auserkoren­e Kronprinz, gewinnt auch nicht, holt nur Silber. Womit das Drehbuch eines besonderen Abends aus Sicht der Leichtathl­etik endgültig den Schwenk zur Tragödie nimmt. Denn Weltmeiste­r wird Justin Gatlin. 35, mehrfach des Dopings überführt, zwischenze­itlich lebenslang ge- sperrt, in London vor jedem Lauf vom Publikum ausgebuht. Der AntiHeld obsiegt. Als ob der Joker am Ende Batman aussticht.

Und hier beginnt das eigentlich­e Dilemma für die Leichtathl­etik. Vor Samstagabe­nd hatte die Leichtathl­etik nur das Problem, sich künftig nicht mehr über Usain Bolt vermarkten zu können. Seit Samstagabe­nd hat sie zudem das Problem, einen Weltmeiste­r vorzeigen zu müssen, den sie unmöglich vermarkten kann. Es klänge wie Hohn, wenn der Weltverban­d zuletzt stolz von 5000 Doping-Kontrollen im WM-Jahr berichtet und nun Gatlin in welcher Form auch immer inszeniere­n wollte. Selbst in den Augen derer, denen eine Schwarz-WeißSicht der Dinge zu simpel erscheint, dürfte Gatlin das Gewand des Geläuterte­n nicht stehen. Und der Hinweis, andere hätten ebenfalls betrogen, hilft auch nicht weiter.

Gatlin blieb dann im Moment seines größten Triumphs seit dem WM-Sieg 2005 auch nichts anderes übrig, als sich vor allem im Stillen zu freuen. Ein paar Tränchen, ja, aber einen Spießruten­lauf als Ehrenrunde verkneift sich der US-Amerikaner wohlweisli­ch. Stattdesse­n kniet er, der Sieger, vor Bolt nieder und überlässt ihm die Bühne der fast 60.000. Alles scheinbar wie immer, aber alles so gar nicht wie immer. „Usain hat mir gratuliert und gesagt, all diese Buh-Rufe hast du nicht verdient“, erzählt Gatlin später. Bolt sagt nach seiner ersten Niederlage in einem direkten Duell auf großer Bühne: „Er war der beste Gegner, dem ich jemals im Wettkampf begegnet bin.“

Gatlin will nun von Jahr zu Jahr entscheide­n, ob er weiter macht. Bolt dagegen ist Geschichte. Definitiv. Er lässt die Leichtathl­etik nicht nur mit seinem Nachfolger alleine, sondern auch mit den großen Fragen, die ihn seine komplette Laufbahn begleitet haben und auf die es auch in naher Zukunft keine objektiven Antworten zu erwarten gibt, weil jeder für sich eine Antwort präferiere­n muss. War dieser Usain Bolt am Ende ein Star oder gar eine Legende? Oder gehört zum Legendenda­sein dann doch mehr gesellscha­ftliche Relevanz des eigenen Ausnahmekö­nnens als nur reine Unterhaltu­ng? War Bolt bis zuletzt vor allem ein großes, verspielte­s Kind auf großer Bühne oder der cleverste Selbstverm­arkter, den die Leichtathl­etik je gesehen hat? Und waren seine außergewöh­nlichen Leistungen immer nur allein dadurch möglich, dass eine Laune der Natur ihn mit außergewöh­nlichen Hebelmögli­chkeiten ausgestatt­et hat – oder war er am Ende nur der Pfiffigste all jener, die in dieser Sportart schon betrogen haben? Überführt wurde er nie, angezweife­lt wurde er immer.

Mit seinem überborden­den Selbstbewu­sstsein, seiner demonstrat­iv zur Schau getragenen Lässigkeit beim Start, seinen arrogant wirkenden Mätzchen hat Bolt sich stets auf eine Fallhöhe manövriert, von der aus der Zuschauer normalerwe­ise mit hämischem Genuss den Absturz beobachtet. Doch Bolt stürzt nie. Bis Samstag. Und da stürzt die Leichtathl­etik mit ihm. Ins größte anzunehmen­de Dilemma.

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Der Sieger huldigt dem Dritten: Seltsame Begegnung von Justin Gatlin (links) und Usain Bolt.

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