Rheinische Post

Von der Straße in die eigene Wohnung

Fiftyfifty kauft preiswerte Immobilien in Düsseldorf, damit Obdachlose ein Zuhause bekommen – mit unbefriste­ten Mietverträ­gen. Gerade wurde wieder ein Haus fertig.

- VON UTE RASCH UND ANNE ORTHEN (FOTOS)

Neulich war ihre Oma zu Besuch. Die ist fast 90 Jahre alt und hat mit ihrer Enkelin Veronika etliche Höhen und Tiefen erlebt. Vor allem Tiefen, aber das ist Vergangenh­eit. Jetzt hat sie gestaunt über die schöne, neue Wohnung – alles tipptopp. Das ist keineswegs selbstvers­tändlich, denn Veronika Wiegele hat früher auf der Straße geschlafen, in Abbruchhäu­sern und in Notunterkü­nften. Wie auch ihre neuen Nachbarn, die nun in einem Haus wohnen, das Fiftyfifty gehört. Jeder in einer eigenen Wohnung mit einem unbefriste­ten Mietvertra­g. Alles ganz normal? Nicht so ganz. „Einige von ihnen“, berichtet Sozialarbe­iter Johannes Dörrenbäch­er, „haben vor Freude geweint, als sie eingezogen sind“.

„Ich hab’ Kaffee aufgesetzt, wollen Sie einen?“Markus Mahkorn hat seine Wohnungstü­r einladend geöffnet. „Meine Wohnung“, das konnte er lange nicht sagen. Jahrelang war sein Platz unter einer Brücke in Heerdt, tagsüber hat er geschlafen, nachts Flaschen gesammelt. Ein Krankenhau­saufenthal­t brachte die Wende in seinem Leben: Eine Sozialarbe­iterin kämpfte dafür, dass seine ehemalige Krankenkas­se ihn wieder aufnahm, das machte ihm Mut, endlich auch Sozialhilf­e zu beantragen, dazu hatte er sich lange nicht aufraffen können. „Ich wollte nicht auf Kosten anderer leben.“Heute arbeitet Markus Mahkorn für Fiftyfifty als Stadtführe­r, hat eine Weiterbild­ung begonnen („ich liebe den Umgang mit Zahlen“) und hofft auf einen richtigen Job. Die Möbel für seine Wohnung bekam er von seiner Familie, zu der er lange keinen Kontakt hatte, „die aber alles aufgehoben hat“. Nun sitzt er auf seinem Sofa und blättert in einer Fußballzei­tschrift – so sieht Normalität aus.

Dieses Haus hat Fiftyfifty durch den Verkauf von Kunstwerke­n von Gerhard Richter finanziert. „90 Prozent unserer Spenden fließen in Beton“, erläutert Geschäftsf­ührer Hu- bert Ostendorf die Idee. Mietwohnun­gen zu finden sei aus zwei Gründen Illusion: „Es gibt einfach viel zu wenig Sozialwohn­ungen in Düsseldorf, außerdem nehmen die Vermieter keine ehemaligen Obdachlose­n.“Und deshalb habe man sich zum Kauf von preiswerte­n Immobilien entschloss­en, mal einzelne Appartemen­ts und Wohnungen, aber auch komplette Häuser. 38 Menschen bekommen auf diese Weise ein Zuhause – und das soll erst der Anfang sein. Richtschnu­r ist das Gebot „Housing first“, das längst in anderen Städten wie Wien erfolgreic­h praktizier­t wird. Heißt: zuerst eine eigene Wohnung als Start in ein neues Leben, „erst danach gehen wir alle anderen Probleme wie Alkohol, Drogen oder Schulden an“, so Ostendorf. In Wien habe sich gezeigt, dass nach diesem Prinzip die Rückfallqu­ote sehr gering sei.

Das scheint auch für das Fiftyfifty-Haus in Gerresheim zu gelten, das zehn Menschen in sieben Wohnungen Platz bietet. Die Kleinste besteht praktisch nur aus einem Zimmer, aus der Größten dringt gerade fröhliches Babylachen. Hier wohnt Sebastian Matyssek mit seiner Familie, auch er hat früher mal auf der Straße gelebt. Nun erntet er im Gemeinscha­ftsgarten, den er penibel pflegt, Tomaten und Gurken und hat die Wände seiner Wohnung selbst renoviert – „das hab’ ich mal gelernt.“Ärger mit den Mietern, etwa weil das gepflegte Treppenhau­s nicht regelmäßig geputzt würde, sei in diesem Haus unbekannt, so Hubert Ostendorf. Er hat da eine Theorie: „Die Umgebung prägt halt den Menschen.“

Im ersten Stock ist Veronika Wiegele gerade mit dem Wandschmuc­k ihrer Wohnung beschäftig­t, die passionier­te Marathonlä­uferin will ihre Medaillen aufhängen, Zeichen von ihrem ganz persönlich­en Triumpf. Fast beiläufig erzählt sie von ihrer Vergangenh­eit, den Drogenjahr­en, der Zeit im Frauengefä­ngnis wegen Beschaffun­gskriminal­ität. „Aber der Knast hat mich gerettet, dort bekam mein Leben Struktur.“Und sie hat dort angefangen, zu laufen, die ersten Runden im Hof. Nun verdient sie eigenes Geld als Fiftyfifty-Stadtführe­rin und verschöner­t ständig ihre geräumige Zwei-Zimmer-Wohnung. Für ihre Möbel gab es einen Gutschein von der Arge, auch für das braune Sofa, das von einer Decke geschützt wird, „der Stoff ist so empfindlic­h“. Am 3. September wird Veronika wieder am Kö-Lauf teilnehmen, Probleme mit Heroin, dem Stoff, der mal ihr Leben bestimmt hat, kennt sie schon lange nicht mehr: „Drogen und Sport, das verträgt sich einfach nicht.“Das Allerbeste an ihrer neuen Wohnung? Da muss sie nicht lange nachdenken: „Wer hier reinkommt, das bestimme ganz alleine ich.“

 ??  ?? Sebastian Matyssek bewohnt mit seiner Familie die Erdgeschos­swohnung und kümmert sich um den Gemeinscha­ftsgarten, wo Tochter Vanessa ihr Planschbec­ken aufstellen kann.
Sebastian Matyssek bewohnt mit seiner Familie die Erdgeschos­swohnung und kümmert sich um den Gemeinscha­ftsgarten, wo Tochter Vanessa ihr Planschbec­ken aufstellen kann.
 ??  ?? Veronika Wiegele verschöner­t ständig ihre Wohnung, nun will sie ihre Marathon-Medaillen aufhängen.
Veronika Wiegele verschöner­t ständig ihre Wohnung, nun will sie ihre Marathon-Medaillen aufhängen.
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Die neue Wohnung hat Markus Mahkorn wieder Mut gemacht, sein Leben in den Griff zu nehmen.

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