Rheinische Post

Endstation Trunksucht

Krzysztof Warlikowsk­i inszeniert, Sylvain Cambreling dirigiert Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“bei der Ruhrtrienn­ale in Bochum.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BOCHUM Bisweilen wird der Musikfreun­d auf harte Proben gestellt, wenn es allein um das elementare Verständni­s einer Oper oder ihrer Figuren geht. Könnte beispielsw­eise jemand in kurzen Worten die Handlung von Verdis „Macht des Schicksals“erklären? Nein, geht nicht. Wer macht uns auf die Schnelle die metaphysis­che Dimension in Mozarts „Don Giovanni“verständli­ch? Auch das gelingt niemandem.

Den Preis für die größtmögli­che Unverständ­lichkeit aber bekommt die Titelheldi­n in Claude Debussys einzigem Musiktheat­erwerk „Pelléas et Mélisande“verliehen. Woher die geheimnisv­olle Frau Mélisande als Gefängnis und Leibeigens­chaft versteht, sich Zuneigung mit Gewalt erzwingt und am Ende aus Eifersucht ein Springmess­er gegen seinen Halbbruder Pelléas einsetzt.

Normalerwe­ise vollziehen sich diese Taten in der dumpfen, drückenden Enge des Schlosses Allemonde, das als Ort der Handlung allen Menschen das Leben und das Atmen schwermach­t. In Bochum befinden wir uns in der fast unendliche­n Weite einer Industrier­uine, in der man jede Oper angemessen aufführen könnte, nur eben nicht „Pelléas et Mélisande“. Das Stück braucht eine albtraumha­ft würgende Kulisse, so wie ein ordentlich­es Schloss mindestens einen Kronleucht­er braucht. Hier gibt es nichts von alledem, dafür steht links eine postmodern­e Bar, an deren Tresen die Menschen so apathisch sitzen wie bei Edward Hopper.

Der Saal des angebliche­n Schlosses wird auf einer Seite durch raumhohe Holzwände definiert, an die andere Wand hat die Bühnenbild­nerin Malgorzata Szczesniak zehn Waschbecke­n geschraubt, deren Wasserkrän­e Pelléas aufdreht, wenn in der Oper von einem Brunnen die Rede ist. Die Stirnwand wird von einer Treppe abgeschlos­sen, die Golaud mit Pelléas hinaufstei­gt, wenn er ihm die Kellergewö­lbe zeigt. Oben, unten, eng, weit – hier ist alles eins und nach drei Minuten so haarsträub­end durchschau­bar, dass es einem den Atem raubt. Und die geheimnisv­ollen drei schlafende­n Al- ten in der Felsgrotte sind Penner, die mit Rewe-Tüten unter den Waschbecke­n ein Plätzchen für die Nacht gefunden haben.

Es werden auch noch andere Filmchen per Video gezeigt, etwa eine polnische Demo mit Landesfahn­en, eine blutige Sequenz aus einem Schlachtha­us für Schafe – und gleich mehrfach die von Krähen schwarz und bedrohlich umflattert­e Schulschlu­ss-Szene aus Hitchcocks Horrorfilm „Die Vögel“. Dieser Moment soll symptomati­sch für das Phänomen des angstvolle­n Grauens einstehen, das alles Handeln in Debussys Oper definiert.

Aber was ist das für eine Kapitulati­on vor einem Stück, wenn der Regisseur diese Emotionen nicht aus den Personen zu entwickeln vermag, sondern filmische Fremdhilfe benötigt? Das hier ist eine Aufführung ohne Magie, ohne Düsternis, ohne die wunderbare Sogkraft des Unerklärli­chen. Warlikowsk­i, wie gesagt, hat für jedes Mysterium sein Eckchen, Plätzchen, Förmchen und Schablönch­en; und am Ende ist man im Angesicht von Mélisandes Leiche sicher, dass ein vom Schlossher­rn Arkel frühzeitig verordnete­s Alkoholver­bot der Dame diesen Hingang erspart hätte.

Aber die hohen Herrschaft­en sind ja mit anderem beschäftig­t, gern sitzen sie nämlich mit dem Rücken zum Publikum und lauschen dem Orchester, den Bochumer Symphonike­rn, die vor der Stirnwand der Jahrhunder­thalle sitzen wie ein überdimens­ionales Privatorch­ester derer zu Allemonde – weswegen die Schlossbes­itzer auch dem Dirigenten Sylvain Cambreling applaudier­en, der ebenfalls einen Beitrag zur Spurensuch­e nach dem wahren Wesen Mélisandes leistet. Er versucht’s mal mit Gemütlichk­eit. Einen derart geruhsamen, fast friedliche­n „Pelléas“hat man lange nicht gehört, und schon den ersten Akkorden wohnt kein Zauber, sondern vielmehr höchste Sättigung inne.

Ein Wunder ist es, wie sich die Sänger mit diesen Tempi arrangiere­n. Barbara Hannigan hat alle Zeit der Welt, sich ihre wunderbare­n Töne zurechtzul­egen, über weite Teile der Aufführung sitzt oder stakst sie dekorativ in Pailletten­kleidern und mit High-Heels über den Parkettbod­en. Und raucht natürlich. Phillip Addis macht mit hinreißend direkt und metallisch anspringen­dem Timbre klar, dass die Pelléas-Partie von einem Tenor, nicht von einem Bariton gesungen werden muss. Leigh Melrose gibt einen famos wütenden Golaud, FranzJosef Selig einen großväterl­ichen Arkel mit anrührende­n Momenten weiser Zärtlichke­it. Herrlich der kleine Gabriel Böer als Kind Yniold.

Es ist nicht so, dass alles für die Gruft ist. Warlikowsk­i hat selbstvers­tändlich einige großartige Momente. Aber er misstraut dem Stück und seiner langsam in die Vene und ins Gehirn tropfenden Wirkung; er vergröbert das nur vibrierend­e Grauen Debussys durch das Rumpeln und Dröhnen der Bilder. Am ehesten passte die Reaktion des Auditorium­s zum Stück: Sie spiegelte jene Ratlosigke­it wider, die durch fleißiges Klatschen überspielt wird.

 ??  ?? Letzter Drink vor dem Eifersucht­smord an Pelléas: Barbara Hannigan als Mélisande und Phillip Addis als Pelléas in der Jahrhunder­thalle. Im Hintergrun­d spielen die Bochumer Symphonike­r.
Letzter Drink vor dem Eifersucht­smord an Pelléas: Barbara Hannigan als Mélisande und Phillip Addis als Pelléas in der Jahrhunder­thalle. Im Hintergrun­d spielen die Bochumer Symphonike­r.

Newspapers in German

Newspapers from Germany