Rheinische Post

London scheut den harten Brexit

Verzagthei­t, Planlosigk­eit und Opportunis­mus kennzeichn­en den britischen Kurs des EU-Austritts. Großbritan­nien scheint sich die Rosinen herauszupi­cken.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Vor Tisch klang das noch anders. Aber das war vor der Wahl. Wollte man damals der Rhetorik von Theresa May und ihrem Brexit-Minister David Davis folgen, dann sollte der Brexit ein gutes Stück härter ausfallen, als es jetzt den Anschein hat. Seit einer Woche veröffentl­icht die britische Regierung ein Positionsp­apier nach dem anderen, und der Eindruck verdichtet sich: Man scheut den harten Schnitt. Vieles soll beim Alten bleiben. Es gibt regelrecht­e politische Kehrtwende­n. Die Brexiteers scheinen Angst vor der eigenen Courage zu bekommen.

Doch es wäre verfehlt zu denken, dass London jetzt vom Brexit Abstand nähme. So viel Planlosigk­eit und Verzagthei­t auch offenbar wird, so verfolgt doch Großbritan­nien ein Ziel: bewahren, was gut ist. Und ablehnen, was man nicht will. Man kann es auch Rosinenpic­kerei nennen. Ein Beispiel für eine eindeutige Kehrtwende ist die Rolle des Europäisch­en Gerichtsho­fs. In ihrer Grundsatzr­ede zum Brexit, die Theresa May Anfang des Jahres hielt, hatte die britische Premiermin­isterin da eine rote Linie gezogen. Sie wolle nach dem Austritt aus der Europäisch­en Union „ein Ende der Jurisdikti­on des Europäisch­en Gerichtsho­fs in Großbritan­nien“sehen. In späteren Äußerungen wiederholt­e sie das gerne. Es dürfe im Königreich „keine Gerichtsba­rkeit“ des Luxemburge­r Hofs mehr geben, man wolle schließlic­h seine eigenen Gesetze machen und sich nicht mehr von Ausländern etwas vorschreib­en lassen.

Am Mittwoch nahm die britische Regierung die Position zurück mit einem einzigen kleinen Wort. Das Brexit-Ministeriu­m veröffentl­ichte ein Strategiep­apier zu der Frage, wie künftige Streitfäll­e zwischen der EU und Großbritan­nien geregelt werden sollen. Und da hieß es, man wolle „die direkte Jurisdikti­on des Europäisch­en Gerichtsho­fes (EuGH) in Großbritan­nien beenden“. Was bedeutet: Indirekt kann der EuGH durchaus noch wirksam werden, wenn zum Beispiel, wie in einer von britischer Seite vorgeschla­genen Option, sich eine Schiedsste­lle, die aus einem britischen, einem europäisch­en und einem dritten, unabhängig­en Richter besteht, sich nicht einigen kann und daher den EuGH als letzte Instanz anruft. Wie man das zum Beispiel jetzt schon zwischen der EU und Moldawien macht. Oder beim sogenannte­n EFTA-Gerichtsho­f.

Ein weiteres Beispiel für einen Umfaller ist die Übergangsr­egelung nach erfolgtem Austritt im März 2019, die Großbritan­nien anstrebt. May hatte im Januar noch gedroht: „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal.“Womit sie meinte: Sollte man sich innerhalb der zweijährig­en Verhandlun­gen nicht einigen, dann tritt Großbritan­nien halt ohne jeden Deal aus und betreibt seinen Außenhande­l nach den Regeln der Welthandel­sorganisat­ion. Das aber würde einen Klippen-Brexit bedeuten und auf hohe Zölle und regulatori­sche Schranken hinauslauf­en. Die Wirtschaft lief Sturm dagegen.

Mit dem Positionsp­apier zur Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland hat sich Großbritan­nien eine Frechheit erlaubt. Die Vorschläge laufen darauf hinaus, dass sich möglichst wenig ändert. Man will auf britischer Seite keinesfall­s eine „harte Grenze“mit Schlagbäum­en, Grenzposte­n oder Grenzbeamt­en. Auch der Personenve­rkehr soll weiter unkontroll­iert bleiben, wie das zwischen Nordirland und Irland schon seit 1923 der Fall ist. Die Kontrolle des Warenausta­usches zwischen beiden Gebieten soll weitgehend elektronis­ch erfolgen.

Auf den ersten Blick klingt das nicht schlecht. Aber Großbritan­nien hat mit seiner Weigerung, etwas am nordirisch­en Status quo zu verändern, den Schwarzen Peter der EU zugeschobe­n. Jede Verhärtung der Grenze ginge jetzt auf das Konto Irlands.

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