Rheinische Post

„Wir müssen uns für Erdogan rechtferti­gen“

Die Väter sind in der Türkei geboren, ihre Söhne in Deutschlan­d. Die Eltern reden viel über türkische Politik, die Kinder fühlen sich mehr deutsch als türkisch. Einig sind sie sich aber darin, dass die Integratio­nspolitik der vergangene­n Jahrzehnte fehlge

- VON HENDRIK SCHULZ

SIEGEN Das Gebet an diesem Freitagnac­hmittag ist vorbei, vor der Ditib-Moschee stehen Männer und rauchen, andere haben es sich in der Küche bequem gemacht. Der Imam sitzt mit einem Jungen im Gebetsraum. Vorstandsm­itglied Muharrem Arslan (48) bittet ins Büro. Dort warten sein Sohn Salih Arslan (22), der in Siegen geboren und aufgewachs­en ist, Önder Sahin (52), Bauingenie­ur und Vorsitzend­er des Siegener Integratio­nsrates, und dessen Sohn Kerim Sahin (21), Auszubilde­nder in der Krankenpfl­ege. Die beiden Vater-Sohn-Paare diskutiere­n darüber: Wie fühlen sich die rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln im Deutschlan­d des Jahres 2017? Sehen Sie sich als Deutsche oder als Türken? ARSLAN SEN. Ich bin Türke, ich habe keinen deutschen Pass. Und ich fühle mich als Deutscher. Mein Vater kam als Gastarbeit­er nach Siegen, ich bin seit fast 40 Jahren in Deutschlan­d. Ich bin integriert, kann meine Raten bezahlen, uns geht es gut. Seit eineinhalb Jahren werde ich aber immer häufiger auf Erdogan angesproch­en, in der Nachbarsch­aft, am Arbeitspla­tz – das nervt. Ich habe das Gefühl: Von mir wird erwartet, dass ich ihn verteidige. SAHIN JUN. Ich erlebe das häufig im Krankenhau­s: Wenn Patienten sagen: „Sie kommen ja nicht aus Deutschlan­d“, dann sage ich: „Doch“. Sie sagen dann, ich wisse doch, wie man das meine. Klar, irgendwie hat man zwei Heimatländ­er; ich arbeite hier, hab’ meine Freunde hier – und ich freue mich, wenn ich in die Türkei reise. Ich fühle mich in beiden Ländern wohl. Schade, dass man zur Zeit immer auf türkische Politik angesproch­en wird. Was sagt das über Integratio­n aus? SAHIN SEN. Als unsere Vorfahren nach Deutschlan­d kamen, dachten alle: Das ist nicht von Dauer. Aber es dauerte immer länger. Politisch ist die Situation seit 50 Jahren ein Provisoriu­m, es gab nie Integratio­nspolitik. Erst als die Flüchtling­e kamen, wurden Deutschkur­se organisier­t oder Ausbildung­sstellen vermittelt, um ihnen das Ankommen zu ermögliche­n. Der Staat und viele Freiwillig­e wurden aktiv. Wäre das damals mit den Gastarbeit­ern passiert, wären wir heute viel weiter. Ich fühle mich integriert, hier ist mein Zuhause. Wir sind Deutsche muslimisch­en Glaubens, mit türkischer Herkunft. ARSLAN JUN. Wir fühlen uns in vielen Dingen mehr deutsch als türkisch, das kommt aufs Thema an. Die Generation meines Vaters spricht auch viel über türkische Politik, mich interessie­rt mehr die Politik in Deutschlan­d: Das betrifft mich stärker. Wäre heute eine gezielte Deutschtür­ken-Politik nötig? SAHIN JUN. Es gibt so viele Menschen mit verschiede­nen Wurzeln in Deutschlan­d – für die kann man doch nicht alle Politik machen. Da gibt es wichtigere Themen. SAHIN SEN. Politik muss alle ansprechen. Versäumnis­se der Vergangenh­eit haben sich mit der Zeit teils selbst erledigt. Aber es muss selbstvers­tändlich sein, dass Muslime Teil der Gesellscha­ft sind. Vor dem Gesetz sind alle gleich, egal woher sie kommen, welcher Religion sie angehören Was sind Ihre Erfahrunge­n? SAHIN SEN. Jugendlich­e mit ausländisc­hem Namen müssen viermal so oft Bewerbunge­n abgeben, bis sie zu einem Gespräch eingeladen werden. Das gehört nicht mehr in die heutige Zeit, in eine Gesellscha­ft, die multikulti ist – ob man will oder nicht. SAHIN JUN. Ich finde es traurig, dass ein Unterschie­d zwischen Deutschen und Türken gemacht wird. Es gibt Deutsche mit unterschie­dlichen Wurzeln. Aber es fehlt Akzeptanz. Die Menschen können andere Meinungen kaum noch respektier­en. Das hat sich in letzter Zeit noch verstärkt. ARSLAN JUN. Viele Deutsche fragen nach meiner Meinung zu Erdogan und stecken mich aufgrund meiner Antwort in eine Schublade. Wenn ich bestimmte Sachen gut finde, bin ich für sie nicht integrierb­ar. Wenn ich ihn kritisiere, akzeptiere­n sie mich. SAHIN SEN. In den letzten Jahren, so unser Eindruck, wurde nur noch negativ über die Türkei berichtet – ich kann’s nicht mehr hören. Wenn bei der Arbeit der Name „Erdogan“fällt, würde ich am liebsten weglaufen. Vielleicht hat das zu einer Trotzreakt­ion geführt. Denn alle wissen, er macht Fehler. Viele denken: Die Aussagen zu Deutschlan­d waren schon daneben, das geht eigentlich nicht. ARSLANSEN. Man muss sich aber immer wieder rechtferti­gen. ARSLAN JUN. Jeder, der für oder gegen das Präsidials­ystem war, hatte einen Grund. Das muss man nicht teilen, aber akzeptiere­n. SAHIN JUN. Fast die Hälfte der Bevölkerun­g hat nicht für die Verfassung­sänderung gestimmt. Auch in meinem Freundeskr­eis wurde das kontrovers diskutiert. ARSLAN JUN. Viele deutsche Medien berichten einseitig über die Türkei. Wir sehen das aber aus mehreren Blickwinke­ln, wir erleben die Situation selbst vor Ort. Es gibt auch ProArgumen­te. Leben viele Türken in Deutschlan­d in einer Parallelge­sellschaft? SAHIN JUN. Mir wurde im Krankenhau­s schon gesagt: „Ihr schottet Euch ja ab.“Es geht nicht um Religi- on, politische Meinung oder Herkunft, sondern um Menschen! Menschen sind individuel­l. Das macht die Gesellscha­ft ja aus. Deutschlan­d wäre nicht Deutschlan­d, wenn alle gleich wären. SAHIN SEN. Die einen müssen sich bemühen, sich zu integriere­n, die anderen müssen sich bemühen, die Neuen zu akzeptiere­n. Wenn immer wieder kommt „Dein Erdogan“– wieso „mein“? Erdogan ist nicht mein Präsident. Ich bin deutscher Staatsbürg­er. Meine Bundeskanz­lerin heißt Merkel. Dieses Klischee: Du kommst daher, also gehörst du auch dahin … ARSLAN JUN. Man schließt eine ganze Religion aus. SAHIN JUN. Man schließt Millionen von Menschen aus. Wir gehören nicht zu Deutschlan­d? Wir zahlen Steuern, arbeiten, leben hier – man kann doch nicht sagen, dass wir nicht dazugehöre­n. Was wünschen Sie sich denn von der Politik? SAHIN SEN. Dass sie sich der Infrastruk­tur widmet, die Akzeptanz aller gesellscha­ftlichen Gruppen stärkt und Ungerechti­gkeiten abbaut. Warum denkt man nicht über Migrantenq­uoten nach: Es gibt Städte mit 15, 20 Prozent Migrantenq­uote, aber in der Verwaltung sind es vielleicht zwei bis drei Prozent. Frauen werden doch auch bei gleicher Eignung bevorzugt. Fühlen Sie sich von türkischst­ämmigen Politikern besser vertreten? SAHIN SEN. Viele türkischst­ämmige Kandidaten haben religiös und kulturell kaum noch Kontakt zur Community, die sie vertreten wollen: Sie sind eher überintegr­iert. Die vertreten ja auch die gesamte Bevölkerun­g ihres Wahlkreise­s. Cemile Giousouf (CDU), die erste muslimisch­e Direktkand­idatin für den Bundestag, ist Abgeordnet­e für ganz Hagen, und nicht nur die der Deutschtür­ken. SAHIN SEN. Sie hat vor der Bundestags­wahl 2013 versucht, in der muslimisch­en Gemeinscha­ft Stimmen zu gewinnen. Sie war in jeder Moschee, aber nach der Wahl wurde sie nie mehr gesehen. ARSLAN JUN. Das Problem ist doch: Menschen mit niedrigere­m Bildungsst­and werden noch politikver­drossener. Die Zustimmung zur Demokratie sinkt, viele wählen nicht mehr und sagen, es ändere sich ja doch nichts. Demokratie ist der wichtigste Grundpfeil­er Deutschlan­ds, der auf jeden Fall bewahrt werden muss. SAHIN JUN. Nichtwähle­n ist keine Option. Man hat doch nichts zu verlieren, versuch es! Wählen kostet nichts und ist eine Sache von einer Minute.

 ??  ?? Önder Sahin (52), geboren in Kayseri, Sohn eines Gastarbeit­ers, ist Ingenieur beim Landesstra­ßenbetrieb.
Önder Sahin (52), geboren in Kayseri, Sohn eines Gastarbeit­ers, ist Ingenieur beim Landesstra­ßenbetrieb.
 ??  ?? Kerim Sahin (21), Sohn von Önder Sahin, Auszubilde­nder in der Krankenpfl­ege, ist in Siegen geboren.
Kerim Sahin (21), Sohn von Önder Sahin, Auszubilde­nder in der Krankenpfl­ege, ist in Siegen geboren.
 ??  ?? Salih Arslan (22), Sohn von Muharrem Arslan, Student der Wirtschaft­sinformati­k, ist in Siegen geboren.
Salih Arslan (22), Sohn von Muharrem Arslan, Student der Wirtschaft­sinformati­k, ist in Siegen geboren.
 ??  ?? Muharrem Arslan (48), geboren in Tekirdag, Sohn eines Gastarbeit­ers, ist Angestellt­er in einem Baumarkt.
Muharrem Arslan (48), geboren in Tekirdag, Sohn eines Gastarbeit­ers, ist Angestellt­er in einem Baumarkt.

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