Gratwanderung zum Gipfeltreffen
Motorenlärm, Investoren, ausbleibende Winter – das beschäftigt den einzigen Politiker in Oberjoch, Deutschlands höchstgelegenem Ort.
OBERJOCH Vielleicht scheint dieses Land, scheint diese Welt von hier oben zu schön. Zu schön, um wahr zu sein. Die sattgrünen Wiesen, die Ruhe, die nur vom steten Läuten der Glocken unterbrochen wird, die die Kühe um den Hals tragen. Dazu die warme Sonne, die diesen zauberhaften Flecken Erde, den Stefan Brutscher Heimat nennt, mit ihren Strahlen zu streicheln scheint.
Oberjoch, Allgäu, 1200 Meter über dem Meer – höchstes Bergdorf Deutschlands. Es ist eine schmale Gratwanderung bis zu unserem Ziel, dem Hausberg Namens Iseler, dem Gipfeltreffen auf 1876 Meter Höhe, wo das Kreuz steht. Kilometer über felsigen Untergrund, auf dem sich manchmal ein Weg nur mit allerbestem Willen abzeichnet.
Eine Gratwanderung ist es auch in der Politik. Stefan Brutscher, einziger Kommunalpolitiker im höchsten Ort der Republik, weiß das. Hiervor Ort engagiert er sich als unabhängiger Kandidat im Gemeinderat Bad Hindelang für die Oberjocher Interessen. Aber auch in der
Bundespolitik, die vor der Wahl ihre Schatten selbst in das sonnige Hochtal wirft. „Als Politiker“, sagt Brutscher, der über eine Ortsliste in den Rat gezogen ist, „kannst du es gar nicht allen recht machen.“Brutscher ist Gemeinderat, Löwenwirt in fünfter Generation, dreifacher Familienvater – und schwindelfrei.
Das ist die Voraussetzung für dieses Gipfeltreffen, das so anders ist als jenes, zu dem sich 20 Staatschefs in Hamburg getroffen haben. Friedlicher. Mit diesem prächtigen Blick auf das weite Land. Ohne Streit, ohne Despoten, ohne Staatschefs, vor denen sich Menschen fürchten. „Dieser Trump, der Putin oder der Erdogan“, sagt Brutscher, „das ist Wahnsinn.“
Bald ist Bundestagswahl. Eine, von der Brutscher, der erst nach seinem Einzug in den Gemeinderat in die CSU eingetreten ist, glaubt, dass die alte Kanzlerin auch die neue ist: „Im vergangenen Jahr habe ich noch gesagt, dass die SPD eine Chance hat, wenn sie den Schulz aufstellt. Jetzt glaube ich daran nicht mehr.“
Was in der Hauptstadt entschieden wird, ist den Menschen im Allgäu nah. Die Sache mit den Motorrädern zum Beispiel. „Da diskutieren wir darüber, ob wir Straßen sperren können, damit es ruhiger in den Orten wird“, sagt Brutscher, „aber warum ist es in Deutschland erlaubt, Motoren zu bauen, die so einen Krach machen?“
Wann immer die Heimat in Gefahr gerät, ist Brutscher da. Der Familienvater, Feuerwehrmann und Mitglied im Jodler-Chor sitzt seit drei Jahren für Oberjoch im Gemeinderat: „Einmal im Leben wollte ich das machen. Ich habe mich verpflichtet gefühlt in dieser schwierigen Zeit für Oberjoch.“Dass Brutscher seit einiger Zeit auch ein CSUParteibuch hat, spielt dabei keine Rolle. Die Liebe zu seiner Heimat hat ihn in die Kommunalpolitik gebracht. Und die Menschen haben ihn gewählt, weil er als jemand gilt, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält.
Der Berg ist es, der den Schweiß fordert. Gipfeltreffen sind anstrengend. Erst recht die Wege dorthin. Brotzeit mit Bergkäse, Leberkäs und Semmeln. „Ich bin ein politi
scher Mensch“, sagt Stefan Brutscher und blickt von der Blumenwiese hinab auf seinen Ort. Es gibt dieses Gebäude, das sofort ins Auge fällt. Und vielleicht waren es die Tage, als ein Investor von außen kam, sich an neuen Liften beteiligte und diesen Hotelkomplex mitten auf eine grüne Wiese im Ort setzte, die den Ausschlag gegeben haben, sich selbst zu engagieren. „So ein großer Komplex, das lockt neue Gäste, das hat wirtschaftliche Vorteile“, sagt Brutscher, „aber wir müssen sehen, dass wir ein Gleichgewicht hinbekommen. Wir dürfen unsere 250 Einwohner bei 2500 Gästebetten nicht überfordern. Für mich ist Oberjoch Heimat, für einen Investor nur ein Platz, an dem sich Geld verdienen lässt.“
Eine Mehrheit im Ort war für den üppigen Neubau. Eine Mehrheit flucht jetzt über die Erweiterungen und den noch anstehenden Anbau, der nötig wird, weil die Mitarbeiter nicht wie zugesagt aus der Umgebung, sondern aus allen möglichen Ländern der Europäischen Union kommen. Die Öffnung der Grenzen spielt eine Rolle. Die Freizügigkeit. Und die Situation auf dem Arbeitsmarkt. „In unserer Region haben wir Vollbeschäftigung.“
Es weht ein frischer Wind an diesem heißen Tag. Wobei das mit dem Wetter hier so eine Sache ist. Der Winter kommt nicht mehr so wie früher. 80 Schneeka
nonen im Skige- biet helfen nicht, wenn es nicht knackig kalt wird. Das ist für die Menschen ein Problem: „Wir bräuchten mal wieder durchgehend Schnee vom 15. Dezember bis zum 1. April“, sagt Stefan Brutscher, „das wäre ein Traum.“Es sind Vorboten des Klimawandels, die das Bergdorf zu treffen scheinen: „Eigentlich halte ich nichts von den ständigen Diskussionen“, sagt Brutscher. „Aber ein bisschen was ist schon dran. Der Winter verschiebt sich immer weiter nach hinten. Das Geld, was uns da durch die Lappen geht, kann man kaum mehr reinholen.“
Wie die Menschen ihn hier sehen? Brutscher grübelt. „Ich glaube, es gibt viele Oberjöchler, die mich schätzen, weil ich mich nicht verbiegen lassen und für meine Heimat einstehe“, sagt er dann. „Aber es gibt auch viele, die mich als Verhinderer sehen. Ich habe den Ruf, die Dinge erstmal skeptisch zu sehen. Wenn du deine Meinung sagst und auch dabei bleibst – dann ist mal dicke Luft. Ich bin ja nicht der Vorsitzende eines Faschingvereins.“
Abstieg. Der Weg führt durch Wiesen, auf denen die Kühe grasen. Irgendwie zu schön, um wahr zu sein.