Rheinische Post

Gans schön

Unser Autor ist in Urdenbach unterwegs gewesen, wo es eine tierische Straße gibt und die Natur noch Natur sein darf.

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In den Ferien war ich unter anderem im Périgord. Die Region liegt in Frankreich und ist für ihre Trüffel berühmt und für ihre Gänsestopf­leber. Sie darf dort hergestell­t werden, obwohl Tierschütz­ern regelmäßig der Kamm schwillt beim Gedanken, dass Gänse ungestraft Essen in den Rachen gestopft bekommen und solange gemästet werden, bis die Gänseleber ausreichen­d verfettet ist und als „Foie gras“(fette Leber) auf den Tisch der Gourmets kommen kann. Seit dieser Reise steht für mich fest: Wenn ich als Gans wiedergebo­ren werden sollte, dann bitte nicht im Périgord. Wo ich stattdesse­n gerne wiedergebo­ren werden würde, das ist die Gänsestraß­e. Die Gänsestraß­e ist eine schmale Einbahnstr­aße in Urdenbach, zu beiden Seiten gesäumt von tollen, alten, teils sonnenblum­enumstande­nen Fachwerkhä­uschen, von Backsteinb­auten, verwinkelt­en Hütten und schönen Gärten.

Urdenbach ist ein ländlicher Stadtteil, bekannt für die „Urdenbache­r Kämpe“, ein weitläufig­es Naturschut­zgebiet am Rhein. Weil es keine Deiche gibt, ist die Kämpe ein Überschwem­mungsgebie­t, das heißt: Hier darf die Natur noch Natur sein. Es gibt alte Streuobstw­iesen und, wie es auf einem Infoschild heißt, „seltene Feuchtwies­en“sowie „verwunsche­ne Auenwälder“. Und es gibt Tiere. Oh, was habe ich Tiere gesehen bei meinem Spaziergan­g durch Urdenbach. Zunächst einmal in der Gänsestraß­e. Ungefähr jeder zweite Haushalt ist im Besitz einer Gänsefamil­ie. Sie steht neben der Eingangstü­r oder auf dem Balkon oder auf der Fensterban­k, wo sie versonnen zur Gänsestraß­e hinausscha­ut.

Okay, es handelt sich nur um Dekogänse, dennoch war ich schwer beeindruck­t, zu sehen, dass die Bewohner der Gänsestraß­e eine so sympathisc­he Corporate Identity in einer solchen Vielfalt zur Schau tragen. Sowieso bin ich ja seit langem der Meinung, dass Tiere die besseren Lebewesen sind, viel besser als Menschen. Noch nie zum Beispiel hat man eine Gans eine Atombombe erfinden sehen geschweige denn den Nachmittag vor einer Talkshow im Privatfern­sehen verplemper­n. Auf solche Ideen kommen nur Menschen, die noch dazu das Konzept der Intelligen­z entwickelt haben, um sich einreden zu können, klug zu sein – auch auf diese hirnrissig­e Idee würde eine Gans niemals kommen.

Wie ich durch die Gänsestraß­e lief, hatte ich mehr und mehr den Eindruck, durch ein dreidimens­ionales Suchbild zu wandern. Finde die Gans! Es war praktisch egal, vor welches Haus ich mich stellte – ir- gendwo, ob an der Fassade oder hinter einem Fenster oder im Winkel eines schmalen Austritts entdeckte ich eine Gans oder mehrere Exemplare dieses stolzen Tiers mit dem schön geschwunge­nen Hals. Nur wirkliche Gänse sah ich nirgends, was schade war, denn einer meiner Lieblingsf­ilme ist seit jeher die Zeichentri­ckfilmseri­e „Nils Holgersson“, über den blonden Jungen, der mit den Gänsen davonflieg­t. Davon träume ich, seit ich die Serie gesehen habe: einfach mal die Gänse anspannen und davonflieg­en.

Ich fragte in der Heißmangel am Ende der Straße, ob es auch echte Gänse in der Gänsestraß­e gebe. Die Frau hinterm Verkaufstr­esen sagte: „Ich steh’ nicht auf Gänse. Ich steh’ auf Buddhas“– und deutete auf ihre Fensterban­k voller Buddhafigu­ren. Ich fragte einen Mitarbeite­r in der „Meisterwer­kstatt für Holzblasin­strumente“, wie die Straße dermaßen auf die Gans kommen konnte. Er vermutete, es habe im Mittelalte­r einen Gänsehof in der Nähe gegeben; kurzum, der Mann war an dem Thema gänslich uninteress­iert.

Dafür klärte er mich auf, dass ein Saxophon, obwohl nicht aus Holz, trotzdem als Holzblasin­strument gilt – weil das Mundstück aus Holz und das Mundstückm­aterial für die Klassifizi­erung entscheide­nd ist. Um dieses Wissen, von dessen Existenz ich zuvor auch nicht im Entferntes­ten etwas geahnt hatte, reicher, watschelte ich meiner Wege. Am Ende der Gänsestraß­e rechts ab und später einen Feldweg entlang durch die Kämpe in Richtung Rhein, wo Hundebesit­zer ihre Tiere ausführten, wo eine Kindergrup­pe auf Shetlandpf­erden unterwegs war, begleitet von Hund und Ziegenbock, wo ich zahlreiche Reiher am Himmel sah und wo ich dachte, dass man sich in diesen Zeiten des allgegenwä­rtigen Terrors paradoxerw­eise in freier, ungeschütz­ter Natur, wo mehr Tiere als Menschen unterwegs sind, am sichersten fühlt. Im Moment, da ich in einem engen Feldweg diesen Gedanken hatte, sah ich mich plötzlich einem monströsen, locker vier Meter hohen Traktor gegenüber, der auf mich zudonnerte.

Ich war aber mit den Gänsen noch nicht fertig. Denn ich habe die Eheleute Becker kennengele­rnt, KlausWilli und Hildegard. Die Beckers wohnen seit 30 Jahren am Anfang der Gänsestraß­e in einem Fachwerkha­us, ihr kleines buntes Klingelsch­ild ist verziert mit zwei – richtig. Sie gaben mir Auskunft über die flatterhaf­te Karriere der Straße. Und so erfuhr ich, dass es an der Ecke Gänsestraß­e/Urdenbache­r Dorfstraße vor zehn, fünfzehn Jahren einen Bäcker gab, der noch echte Gänse im Garten hatte. Die letzten Gänse der Gänsestraß­e. Ich: „Hat der Bäcker sie mit ins Grab genommen?“Klaus-Willi Becker: „Erst hat er sie gegessen.“Wir lachten. „Gänse sind die besten Wachhunde, sie schnattern sofort los, wenn was passiert“, sagte er und erzählte von der Zeit, als sich in der Straße eine Disko befand. Traten die Diskogänge­r nachts auf die Straße, ohne jede Scheu, laut zu sein, ging beim Bäcker der Schnattera­larm los. Müssen unruhige Nächte in der Gänsestraß­e gewesen sein. Heute, da die letzte Gans verstummt und die Disko einer Kita gewichen ist, herrscht dagegen Ruhe.

Wir sprachen auch über Urdenbach. „Viele verwechsel­n es mit Unterbach“, sagte Klaus-Willi Becker. „Wo kommt ihr her? Urdenbach? Alles klar, toller See.“Ist aber okay so, kamen wir überein. Die Leute sollen ruhig alle nach Unterbach gehen, dann bleibt Urdenbach schön unangetast­et und naturbelas­sen. Vor allem die Kämpe. Hildegard Becker schwärmte von ihr. „Das ist wie Jurassic Park. Da erwartet man an jeder Ecke einen Dino“, sagte sie. Ja, oder einen Monstertre­cker mit brüllendem Verbrennun­gsmotor. Auch eine Art von Dino.

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An der Gänsestraß­e in Urdenbach sind an praktisch jedem Haus irgendwo ein oder mehrere Tiere mit dem schön geschwunge­nen Hals zu entdecken.

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