Schulz will Türkei ein Ultimatum stellen
Im Streit um die in der Türkei inhaftierten Deutschen verschärft sich der Ton weiter. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will Ankara eine Frist zur Freilassung der Gefangenen setzen.
Der Kanzlerkandidat der SPD erhöht den Druck auf die Türkei: Martin Schulz hat sich für ein Ultimatum gegenüber Ankara im Konflikt um die dort inhaftierten Deutschen ausgesprochen. „Wir sollten dem türkischen Präsidenten eine Frist setzen. Wenn Herr Erdogan nicht unverzüglich die deutschen Gefangenen freilässt, muss die EU die Verhandlungen mit der Türkei über eine Ausweitung der Zollunion mit der Türkei abbrechen“, sagte Schulz unserer Redaktion. „Das würde die Türkei hart treffen, aber Herr Erdogan scheint keine andere Sprache zu verstehen“, erklärte der SPD-Kanzlerkandidat. Auch die EU-Beitrittshilfen müssten dann gestoppt werden. Schulz betonte, die wichtigste Verbindung für Erdogan zur EU sei die Zollunion. Sie erleichtere der türkischen Wirtschaft den Zugang zum EU-Markt – gerade werde über eine Ausweitung verhandelt.
Aktuell sitzen zehn Deutsche in der Türkei in Haft, denen politische Straftaten vorgeworfen werden. Darunter sind der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, die Journalistin Mesale Tolu Corlu und der Menschenrechtler Peter Steudtner. Gegen alle drei erhebt die Türkei Terrorvorwürfe. Yücel, der bereits Ende Februar festgenommen worden war, wird zusätzlich Volksverhetzung vorgeworfen. Die Bundesregierung hatte die Türkei mehrfach aufgefordert, die Inhaftierten freizulassen.
Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte sich gestern in der „Bild“-Zeitung skeptisch geäußert, die Gefangenen freizubekommen. „Die Chance ist nicht sehr groß, wenn man ehrlich ist. Sie werden festgehalten – ohne dass es dafür ei- nen Grund gibt“, sagte der SPD-Politiker. Man müsse den Eindruck gewinnen, dass sie politisch missbraucht würden für das Schüren von Nationalismus. „Das ist bitter und ein großes Unrecht.“Gabriel riet zudem zu Vorsicht bei Reisen in die Türkei. „Die Entscheidung können wir als Staat niemandem abnehmen“, sagte er. „Man kann das nicht mit gutem Gewissen machen zurzeit.“Bereits Ende Juli hatte die Bundesregierung die allgemeinen Reisehinweise für die Türkei verschärft.
Die türkische Regierung wiederum rief gestern die deutsche Seite zur Mäßigung auf. „Wir sehen, dass Stellungnahmen aus Deutschland eine rote Linie überschreiten“, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Es gebe keine Notwendigkeit für populistische Anmerkungen vor Wahlen. „Wahlen kommen und gehen, aber Freundschaften bleiben. Wir warnen, vorsichtig zu sein.“Die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara sind seit Monaten auf einem Tiefpunkt. Die deutschen Häftlinge sind dabei ein zentraler Konfliktpunkt. Die Türkei wiederum ist über die Auftrittsverbote ihrer Politiker in Deutschland verärgert. Zudem wirft sie der Bundesregierung vor, Drahtziehern des Putschversuchs vor einem Jahr Unterschlupf zu gewähren.
Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mehrfach Nazi-Vergleiche zu deutschen Politiker gezogen. Zuletzt riet er den in Deutschland lebenden türkischstämmigen Wahlberechtigten davon ab, CDU, SPD oder Grüne zu wählen. Schulz verbat sich diese Einmischung in den Bundestagswahlkampf energisch: „Seine Aufforderung an die Deutsch-Türken, bestimmte Parteien nicht zu wählen, ist ein unsäglicher Vorgang. Wir müssen uns nicht als Feinde der Türkei bezeichnen lassen“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat. Die Feinde der Türkei seien diejenigen, die in der Türkei die Demokratie abbauten.
Seit dem Putschversuch vor einem Jahr erlebt die Türkei eine beispiellose Säuberungswelle. Erst gestern startete Erdogan eine weitere Aktion: Mit zwei neuen Notstandsdekreten entließ er 928 weitere Staatsbedienstete. Außerdem wurden drei kurdische Medienorganisationen geschlossen. Wie auch die vorangegangenen Maßnahmen dieser Art wurden die Schritte mit einer angeblichen Verbindung zu Terrororganisationen oder Gefährdung der nationalen Sicherheit begründet.
Trotz des massiven Konflikts zwischen Deutschland und der Türkei und auch europäisch-türkischer Auseinandersetzungen ist Schulz vom Bestand des Flüchtlingsabkommens überzeugt. „Bei der Flüchtlingspolitik mit der Türkei mache ich mir keine Sorgen. Die Türkei hat ein Interesse daran, dass diese Verabredung bestehen bleibt.“
Auch in Brüssel setzt man weiter auf das Abkommen. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger forderte von den EU-Mitgliedern mehr Geld, um die Vereinbarungen des Flüchtlingsabkommens einhalten zu können.
LEVERKUSEN Wir treffen den SPDKanzlerkandidaten zwischen zwei Wahlkampfterminen im Forum Leverkusen. Das Interview führt er wie seinen Wahlkampf: angriffslustig.
Was wäre die erste Amtshandlung eines Bundeskanzlers Martin Schulz?
SCHULZ Ich würde die Gleichstellung von Mann und Frau, die unsere Verfassung vorsieht, endlich umsetzen. Das umfasst die vollständige Gleichbehandlung von Frauen und Männern auf allen Ebenen in Deutschland: beim Lohn, bei der Partizipation von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft, bei der Aufwertung der sozialen Berufe.
Gerechtigkeit ist Ihr großes Thema. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch in Deutschland?
SCHULZ Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, aber investieren zu wenig in Pflege, Alterssicherung, Bildung. Diese Themen beschäftigen die Menschen. Darauf hat die SPD Antworten.
Warum spürt man dies nicht in den SPD-Umfragewerten?
SCHULZ Warten Sie es ab. Jetzt beginnt ja erst der Wahlkampf, und es bewegt sich schon was. Im Januar waren wir bei 19, 20 Prozent. Dann gab es einen Hype, den ich selbst nicht für nachhaltig gehalten habe, und einen Einschnitt nach der verlorenen NRW-Wahl. Die Hälfte der Wähler ist noch unentschieden. Darauf lässt sich in den kommenden vier Wochen aufbauen. Wir werden stetig unsere Themen deutlich machen und so stärker werden. Die Gegenseite hat nur eine Person, kein Programm, keine Ideen. Das ist den Leuten zu wenig.
Dient Ihnen ausgerechnet der CDUSieg in NRW als Vorbild?
SCHULZ Es ist doch so: Armin Laschet lag in den Umfragen hoffnungslos hinter der Ministerpräsidentin und lag am Ende vorne. Das ging Macron in Frankreich auch so, heute ist er Präsident.
Sie werfen der Union vor, sie wolle Rüstungsausgaben nach oben treiben und Sozialausgaben kürzen. Nun hat Frau Merkel gesagt, dass sie keine Sozialausgaben kürzen will.
SCHULZ Frau Merkel hat sich entschieden, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen, und das bedeutet 30 Milliarden Euro mehr für die Rüstung pro Jahr. Das ist mit mir nicht zu machen. Ich will, dass wir in Schulen und Bildung investieren! Wie würden Sie den Verteidigungsetat erhöhen, immerhin ist die Ausrüstung teils marode und die Anforderungen im Auslandseinsatz sind gestiegen. SCHULZ Unsere Armee braucht mehr Geld, um in die Lage versetzt zu werden, die vom Parlament beschlossenen Mandate auch ausfüllen zu können. Das werden Milliarden sein. Zwölf Jahre Verteidigungsminister der Union haben der Bundeswehr nicht gut getan. Wir werden der Bundeswehr das Geld geben, das sie braucht, aber wir werden nicht der Aufrüstungslogik von Herrn Trump folgen. Wie packt man einen Gegner, der sich inhaltlich nicht packen lassen will? SCHULZ Das Programm der Union ist Angela Merkel, sonst nichts. Aber die Menschen sehen an allen Ecken und Enden, dass ein einfaches „Weiter so“nicht reicht. Angela Merkel ist nur an einer Sache wirklich interessiert: ihrer eigenen Macht. Zu was hat sich diese Kanzlerin eigentlich jemals klar geäußert? Frau Merkel sagt, sie habe Großes mit Europa vor. Was genau, das sage sie aber erst nach der Wahl. So kann man unsere Zukunft nicht gestalten. Sie können Angela Merkel im TV-Duell am 3. September ja damit konfrontieren. SCHULZ Das werde ich auch tun. Frau Merkel hat ja versucht, die Bedingungen für das Duell zu diktie- ren. Das zeigt schon, dass sie sich vor der direkten Auseinandersetzung scheut. Kein Wunder, wenn man nie Position bezieht. Kann das TV-Duell den Stimmungsumschwung bringen? SCHULZ Das Duell ist sicher wichtig. Die Alternativen sind klar: Mit Frau Merkels Nichtstun sinkende Renten und steigende Beiträge, mit mir als Bundeskanzler stabiles Rentenniveau und stabile Beiträge. Angela Merkel und 30 Milliarden für Rüstung oder Martin Schulz und 30 Milliarden für Schulen, Kitas, Pflege und schnelles Internet auch auf dem Land. Haben Sie einen guten Draht zu FDPChef Lindner? SCHULZ Ich kenne Herrn Lindner. Die Ampel-Koalition könnte ihre einzige Chance zur Macht sein. SCHULZ Wer nach der Wahl mit uns koalieren will, kann auf uns zukommen. Die Bildungspolitik ist eines Ihrer großen Wahlkampfthemen. Aber in der Schulpolitik können Sie nur bedingt Versprechungen machen, wenn Sie nicht die Zuständigkeit an den Bund ziehen. SCHULZ Wir werden am Montag mit den Ministerpräsidenten der SPD einen nationalen Bildungspakt auf den Weg bringen. Wir werden zwölf Milliarden Euro in die Bildung von der Kita bis zur Hochschule investieren. Es geht um Schulsanierung, mehr Personal, bessere Infrastruktur, moderne Lehrmittel und Gebührenfreiheit für Unis und für den Meisterbrief. Wie soll das ohne Zuständigkeit des Bundes funktionieren? SCHULZ Der Schlüssel dazu ist die Abschaffung des Kooperationsverbots. Das werden wir auch in unserer Bildungsallianz durchsetzen. Haben Sie dafür grünes Licht der Ministerpräsidenten? SCHULZ Ja, die werden am Montag ja auch dabei sein. Das Verbot einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildung ist Irrsinn. Dafür hat niemand Verständnis. Schon gar nicht Eltern, Lehrer und Schüler, wenn es in der Schule reinregnet. Wir werden das Kooperationsverbot abschaffen. Der Knoten muss endlich durchschlagen werden. Wann wird die Kreidezeit in den Schulen vorbei sein? SCHULZ So schnell wie möglich. Moderne Lehrmittel sind für uns einer der zentralen Punkte in der nationalen Bildungsallianz. Halten Sie das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen angesichts des eskalierenden Konflikts für sicher? SCHULZ Bei der Flüchtlingspolitik mit der Türkei mache ich mir keine Sorgen. Die Türkei hat ein Interesse daran, dass diese Verabredung bestehen bleibt. Weil Präsident Erdogan der Pakt genauso hilft wie uns? SCHULZ Ich warne davor, den Umgang der Türkei mit Flüchtlingen mit der berechtigten Kritik an Erdogan zu vermengen. In der Türkei leben über drei Millionen Flüchtlinge, die dort gut versorgt werden, da kann man der Türkei nichts vorwerfen. Herr Erdogan hat auch kein Interesse und auch keine Möglichkeit, mit einer Aufkündigung des Flüchtlingspaktes zu drohen. Hat die EU denn Möglichkeiten, Erdogan unter Druck zu setzen – beispielsweise um die willkürlich verhafteten Deutschen freizubekommen? SCHULZ Die wichtigste Verbindung für Erdogan zur EU ist die Zollunion. Die erleichtert der türkischen Wirt- schaft den Zugang zum EU-Markt, gerade wird über eine Ausweitung verhandelt. Wir sollten dem türkischen Präsidenten eine Frist setzen. Wenn Herr Erdogan nicht unverzüglich die deutschen Gefangenen freilässt, muss die EU die Verhandlungen mit der Türkei über eine Ausweitung der Zollunion mit der Türkei abbrechen. Das würde die Türkei hart treffen, aber Herr Erdogan scheint keine andere Sprache zu verstehen. Auch die EU-Beitrittshilfen müssen dann gestoppt werden. Wird Erdogan die Bundestagswahl beeinflussen können? SCHULZ Er versucht es.