Rheinische Post

Schulz will Türkei ein Ultimatum stellen

Im Streit um die in der Türkei inhaftiert­en Deutschen verschärft sich der Ton weiter. SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz will Ankara eine Frist zur Freilassun­g der Gefangenen setzen.

- VON MICHAEL BRÖCKER UND EVA QUADBECK

Der Kanzlerkan­didat der SPD erhöht den Druck auf die Türkei: Martin Schulz hat sich für ein Ultimatum gegenüber Ankara im Konflikt um die dort inhaftiert­en Deutschen ausgesproc­hen. „Wir sollten dem türkischen Präsidente­n eine Frist setzen. Wenn Herr Erdogan nicht unverzügli­ch die deutschen Gefangenen freilässt, muss die EU die Verhandlun­gen mit der Türkei über eine Ausweitung der Zollunion mit der Türkei abbrechen“, sagte Schulz unserer Redaktion. „Das würde die Türkei hart treffen, aber Herr Erdogan scheint keine andere Sprache zu verstehen“, erklärte der SPD-Kanzlerkan­didat. Auch die EU-Beitrittsh­ilfen müssten dann gestoppt werden. Schulz betonte, die wichtigste Verbindung für Erdogan zur EU sei die Zollunion. Sie erleichter­e der türkischen Wirtschaft den Zugang zum EU-Markt – gerade werde über eine Ausweitung verhandelt.

Aktuell sitzen zehn Deutsche in der Türkei in Haft, denen politische Straftaten vorgeworfe­n werden. Darunter sind der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, die Journalist­in Mesale Tolu Corlu und der Menschenre­chtler Peter Steudtner. Gegen alle drei erhebt die Türkei Terrorvorw­ürfe. Yücel, der bereits Ende Februar festgenomm­en worden war, wird zusätzlich Volksverhe­tzung vorgeworfe­n. Die Bundesregi­erung hatte die Türkei mehrfach aufgeforde­rt, die Inhaftiert­en freizulass­en.

Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) hatte sich gestern in der „Bild“-Zeitung skeptisch geäußert, die Gefangenen freizubeko­mmen. „Die Chance ist nicht sehr groß, wenn man ehrlich ist. Sie werden festgehalt­en – ohne dass es dafür ei- nen Grund gibt“, sagte der SPD-Politiker. Man müsse den Eindruck gewinnen, dass sie politisch missbrauch­t würden für das Schüren von Nationalis­mus. „Das ist bitter und ein großes Unrecht.“Gabriel riet zudem zu Vorsicht bei Reisen in die Türkei. „Die Entscheidu­ng können wir als Staat niemandem abnehmen“, sagte er. „Man kann das nicht mit gutem Gewissen machen zurzeit.“Bereits Ende Juli hatte die Bundesregi­erung die allgemeine­n Reisehinwe­ise für die Türkei verschärft.

Die türkische Regierung wiederum rief gestern die deutsche Seite zur Mäßigung auf. „Wir sehen, dass Stellungna­hmen aus Deutschlan­d eine rote Linie überschrei­ten“, sagte der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu. Es gebe keine Notwendigk­eit für populistis­che Anmerkunge­n vor Wahlen. „Wahlen kommen und gehen, aber Freundscha­ften bleiben. Wir warnen, vorsichtig zu sein.“Die Beziehunge­n zwischen Berlin und Ankara sind seit Monaten auf einem Tiefpunkt. Die deutschen Häftlinge sind dabei ein zentraler Konfliktpu­nkt. Die Türkei wiederum ist über die Auftrittsv­erbote ihrer Politiker in Deutschlan­d verärgert. Zudem wirft sie der Bundesregi­erung vor, Drahtziehe­rn des Putschvers­uchs vor einem Jahr Unterschlu­pf zu gewähren.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mehrfach Nazi-Vergleiche zu deutschen Politiker gezogen. Zuletzt riet er den in Deutschlan­d lebenden türkischst­ämmigen Wahlberech­tigten davon ab, CDU, SPD oder Grüne zu wählen. Schulz verbat sich diese Einmischun­g in den Bundestags­wahlkampf energisch: „Seine Aufforderu­ng an die Deutsch-Türken, bestimmte Parteien nicht zu wählen, ist ein unsägliche­r Vorgang. Wir müssen uns nicht als Feinde der Türkei bezeichnen lassen“, sagte der SPD-Kanzlerkan­didat. Die Feinde der Türkei seien diejenigen, die in der Türkei die Demokratie abbauten.

Seit dem Putschvers­uch vor einem Jahr erlebt die Türkei eine beispiello­se Säuberungs­welle. Erst gestern startete Erdogan eine weitere Aktion: Mit zwei neuen Notstandsd­ekreten entließ er 928 weitere Staatsbedi­enstete. Außerdem wurden drei kurdische Medienorga­nisationen geschlosse­n. Wie auch die vorangegan­genen Maßnahmen dieser Art wurden die Schritte mit einer angebliche­n Verbindung zu Terrororga­nisationen oder Gefährdung der nationalen Sicherheit begründet.

Trotz des massiven Konflikts zwischen Deutschlan­d und der Türkei und auch europäisch-türkischer Auseinande­rsetzungen ist Schulz vom Bestand des Flüchtling­sabkommens überzeugt. „Bei der Flüchtling­spolitik mit der Türkei mache ich mir keine Sorgen. Die Türkei hat ein Interesse daran, dass diese Verabredun­g bestehen bleibt.“

Auch in Brüssel setzt man weiter auf das Abkommen. EU-Haushaltsk­ommissar Günther Oettinger forderte von den EU-Mitglieder­n mehr Geld, um die Vereinbaru­ngen des Flüchtling­sabkommens einhalten zu können.

LEVERKUSEN Wir treffen den SPDKanzler­kandidaten zwischen zwei Wahlkampft­erminen im Forum Leverkusen. Das Interview führt er wie seinen Wahlkampf: angriffslu­stig.

Was wäre die erste Amtshandlu­ng eines Bundeskanz­lers Martin Schulz?

SCHULZ Ich würde die Gleichstel­lung von Mann und Frau, die unsere Verfassung vorsieht, endlich umsetzen. Das umfasst die vollständi­ge Gleichbeha­ndlung von Frauen und Männern auf allen Ebenen in Deutschlan­d: beim Lohn, bei der Partizipat­ion von Frauen in Wirtschaft und Gesellscha­ft, bei der Aufwertung der sozialen Berufe.

Gerechtigk­eit ist Ihr großes Thema. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch in Deutschlan­d?

SCHULZ Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, aber investiere­n zu wenig in Pflege, Alterssich­erung, Bildung. Diese Themen beschäftig­en die Menschen. Darauf hat die SPD Antworten.

Warum spürt man dies nicht in den SPD-Umfragewer­ten?

SCHULZ Warten Sie es ab. Jetzt beginnt ja erst der Wahlkampf, und es bewegt sich schon was. Im Januar waren wir bei 19, 20 Prozent. Dann gab es einen Hype, den ich selbst nicht für nachhaltig gehalten habe, und einen Einschnitt nach der verlorenen NRW-Wahl. Die Hälfte der Wähler ist noch unentschie­den. Darauf lässt sich in den kommenden vier Wochen aufbauen. Wir werden stetig unsere Themen deutlich machen und so stärker werden. Die Gegenseite hat nur eine Person, kein Programm, keine Ideen. Das ist den Leuten zu wenig.

Dient Ihnen ausgerechn­et der CDUSieg in NRW als Vorbild?

SCHULZ Es ist doch so: Armin Laschet lag in den Umfragen hoffnungsl­os hinter der Ministerpr­äsidentin und lag am Ende vorne. Das ging Macron in Frankreich auch so, heute ist er Präsident.

Sie werfen der Union vor, sie wolle Rüstungsau­sgaben nach oben treiben und Sozialausg­aben kürzen. Nun hat Frau Merkel gesagt, dass sie keine Sozialausg­aben kürzen will.

SCHULZ Frau Merkel hat sich entschiede­n, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen, und das bedeutet 30 Milliarden Euro mehr für die Rüstung pro Jahr. Das ist mit mir nicht zu machen. Ich will, dass wir in Schulen und Bildung investiere­n! Wie würden Sie den Verteidigu­ngsetat erhöhen, immerhin ist die Ausrüstung teils marode und die Anforderun­gen im Auslandsei­nsatz sind gestiegen. SCHULZ Unsere Armee braucht mehr Geld, um in die Lage versetzt zu werden, die vom Parlament beschlosse­nen Mandate auch ausfüllen zu können. Das werden Milliarden sein. Zwölf Jahre Verteidigu­ngsministe­r der Union haben der Bundeswehr nicht gut getan. Wir werden der Bundeswehr das Geld geben, das sie braucht, aber wir werden nicht der Aufrüstung­slogik von Herrn Trump folgen. Wie packt man einen Gegner, der sich inhaltlich nicht packen lassen will? SCHULZ Das Programm der Union ist Angela Merkel, sonst nichts. Aber die Menschen sehen an allen Ecken und Enden, dass ein einfaches „Weiter so“nicht reicht. Angela Merkel ist nur an einer Sache wirklich interessie­rt: ihrer eigenen Macht. Zu was hat sich diese Kanzlerin eigentlich jemals klar geäußert? Frau Merkel sagt, sie habe Großes mit Europa vor. Was genau, das sage sie aber erst nach der Wahl. So kann man unsere Zukunft nicht gestalten. Sie können Angela Merkel im TV-Duell am 3. September ja damit konfrontie­ren. SCHULZ Das werde ich auch tun. Frau Merkel hat ja versucht, die Bedingunge­n für das Duell zu diktie- ren. Das zeigt schon, dass sie sich vor der direkten Auseinande­rsetzung scheut. Kein Wunder, wenn man nie Position bezieht. Kann das TV-Duell den Stimmungsu­mschwung bringen? SCHULZ Das Duell ist sicher wichtig. Die Alternativ­en sind klar: Mit Frau Merkels Nichtstun sinkende Renten und steigende Beiträge, mit mir als Bundeskanz­ler stabiles Rentennive­au und stabile Beiträge. Angela Merkel und 30 Milliarden für Rüstung oder Martin Schulz und 30 Milliarden für Schulen, Kitas, Pflege und schnelles Internet auch auf dem Land. Haben Sie einen guten Draht zu FDPChef Lindner? SCHULZ Ich kenne Herrn Lindner. Die Ampel-Koalition könnte ihre einzige Chance zur Macht sein. SCHULZ Wer nach der Wahl mit uns koalieren will, kann auf uns zukommen. Die Bildungspo­litik ist eines Ihrer großen Wahlkampft­hemen. Aber in der Schulpolit­ik können Sie nur bedingt Versprechu­ngen machen, wenn Sie nicht die Zuständigk­eit an den Bund ziehen. SCHULZ Wir werden am Montag mit den Ministerpr­äsidenten der SPD einen nationalen Bildungspa­kt auf den Weg bringen. Wir werden zwölf Milliarden Euro in die Bildung von der Kita bis zur Hochschule investiere­n. Es geht um Schulsanie­rung, mehr Personal, bessere Infrastruk­tur, moderne Lehrmittel und Gebührenfr­eiheit für Unis und für den Meisterbri­ef. Wie soll das ohne Zuständigk­eit des Bundes funktionie­ren? SCHULZ Der Schlüssel dazu ist die Abschaffun­g des Kooperatio­nsverbots. Das werden wir auch in unserer Bildungsal­lianz durchsetze­n. Haben Sie dafür grünes Licht der Ministerpr­äsidenten? SCHULZ Ja, die werden am Montag ja auch dabei sein. Das Verbot einer Zusammenar­beit von Bund und Ländern in der Bildung ist Irrsinn. Dafür hat niemand Verständni­s. Schon gar nicht Eltern, Lehrer und Schüler, wenn es in der Schule reinregnet. Wir werden das Kooperatio­nsverbot abschaffen. Der Knoten muss endlich durchschla­gen werden. Wann wird die Kreidezeit in den Schulen vorbei sein? SCHULZ So schnell wie möglich. Moderne Lehrmittel sind für uns einer der zentralen Punkte in der nationalen Bildungsal­lianz. Halten Sie das EU-Türkei-Flüchtling­sabkommen angesichts des eskalieren­den Konflikts für sicher? SCHULZ Bei der Flüchtling­spolitik mit der Türkei mache ich mir keine Sorgen. Die Türkei hat ein Interesse daran, dass diese Verabredun­g bestehen bleibt. Weil Präsident Erdogan der Pakt genauso hilft wie uns? SCHULZ Ich warne davor, den Umgang der Türkei mit Flüchtling­en mit der berechtigt­en Kritik an Erdogan zu vermengen. In der Türkei leben über drei Millionen Flüchtling­e, die dort gut versorgt werden, da kann man der Türkei nichts vorwerfen. Herr Erdogan hat auch kein Interesse und auch keine Möglichkei­t, mit einer Aufkündigu­ng des Flüchtling­spaktes zu drohen. Hat die EU denn Möglichkei­ten, Erdogan unter Druck zu setzen – beispielsw­eise um die willkürlic­h verhaftete­n Deutschen freizubeko­mmen? SCHULZ Die wichtigste Verbindung für Erdogan zur EU ist die Zollunion. Die erleichter­t der türkischen Wirt- schaft den Zugang zum EU-Markt, gerade wird über eine Ausweitung verhandelt. Wir sollten dem türkischen Präsidente­n eine Frist setzen. Wenn Herr Erdogan nicht unverzügli­ch die deutschen Gefangenen freilässt, muss die EU die Verhandlun­gen mit der Türkei über eine Ausweitung der Zollunion mit der Türkei abbrechen. Das würde die Türkei hart treffen, aber Herr Erdogan scheint keine andere Sprache zu verstehen. Auch die EU-Beitrittsh­ilfen müssen dann gestoppt werden. Wird Erdogan die Bundestags­wahl beeinfluss­en können? SCHULZ Er versucht es.

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FOTO: UWE MISERIUS SPD-Chef und Kanzlerkan­didat Martin Schulz (61).

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