Wir sind Demokratie!
Hallo, es ist Wahlkampf. Wer es noch nicht bemerkt hat, befindet sich in guter Gesellschaft. Wieder erinnert so vieles an 2009 und 2013: der Abstand zwischen Union und SPD in den Umfragen, die bräsige Gewissheit, dass es Deutschland im internationalen Vergleich verdammt gut geht, und auch der mangelnde Wille der Union, über Zukunftskonzepte wirklich zu streiten.
2017 ist diese Haltung fatal. Das Land und die Stimmung der Bürger haben sich verändert. Die akute Flüchtlingskrise ist beendet, doch ihre Folgen beschäftigen die Menschen. Wie werden jene integriert, die bleiben dürfen? Wie schicken wir jene wieder weg, die dazu nicht berechtigt sind, und vor allem jene, die sich gegen unsere freie Gesellschaft wenden? Darüber sprechen die Parteien (zu) wenig.
Große Baustellen bestehen bei Zukunftsthemen. Seit Beginn des Jahrtausends hat sich Deutschland vom kranken Mann Europas zum Musterknaben entwickelt. Unsere Gesellschaft ist darauf zu Recht stolz. Doch gerade sind wir wieder dabei, den Anschluss zu verlieren: Die digitale Revolution hat weder unsere Verwaltung noch die Schulen oder den Mittelstand erreicht. Das Flaggschiff der Industrie, die Automobilbranche, hat Schlagseite. Die Aufstiegschancen sind für Kinder wenig gebildeter Eltern, Alleinerziehender und von Zuwanderern zu gering. Den Begriff der Bildungsrepublik Deutschland müssen oft noch Eltern ausfüllen, indem sie die Klassenzimmer ihrer Kinder streichen.
Zu viele Talente bleiben durch eine verfehlte, ideologisierte Bildungspolitik zurück. In einer alternden Gesellschaft ist das so zukunftsvergessen, als würde man von einer Ernte keine Saat fürs nächste Frühjahr zurücklegen. Wir leben von unserer Substanz, die Gesellschaft altert. Auch die Sozialsysteme Rente, Pflege und Gesundheit brauchen eine Runderneuerung, die den drohenden Konflikt zwischen Jung und Alt abfedert. Und wer macht eigentlich Wirtschaftspolitik in diesem Land? „Reformstau“könnte durchaus berechtigt auf der Liste der Wörter des Jahres stehen.
Mit der Bekanntgabe ihrer vierten Kandidatur kündigte CDU-Kanzlerin Angela Merkel einen anderen, einen harten Wahlkampf an. Bislang ist davon nichts zu spü- ren. Im Gegenteil: Sie setzt auf ihre Lieblings-Strategie des geringsten Widerstands. Um welchen Preis? Die Gefahr, die in diesem blutleeren Wahlkampf liegt, zeigen die Umfragewerte. Vier Wochen vor der Bundestagswahl verlieren die etablierten Volksparteien, die Ränder gewinnen.
Hinzu kommt: Nach der Wahl wird sich die politische Kultur im Land verändern. Es wird eine starke Opposition im Bundestag geben – egal, ob es eine Fortsetzung der großen Koalition, eine neue Konstellation unter Angela Merkel oder eine Ampel-Koalition unter Martin Schulz geben sollte. Mit der CSU könnten sieben Parteien im Bundestag sitzen, so viel wie seit 1953 nicht mehr. Es wird also kompliziert, mutige Politik ist gefragt.
Die neue Regierung wird überdies eine integrierende Funktion erfüllen müssen, der Zusammenhalt der Gesellschaft ist brüchig. Hetze im Netz und Anschläge auf Büros und Autos von Politikern sind Anzeichen eines Elitenhasses, der sich breitmacht. Die Gesellschaft – und das ist ein Unterschied zu 2009 und 2013 – ist politisiert. Die Bewerber um ein Bundestagsmandat wären also gut beraten, diese Stimmung für eine echte und konstruktive Auseinandersetzung zu nutzen. Wir als Rheinische Post wollen diese Debatte führen, mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, genauso wie mit den Spitzen der Politik. In Analysen, Reportagen, Essays, Interviews und neuen journalistischen Formaten wollen wir in den nächsten 30 Tagen den großen Themen nachgehen – von Alterssicherung bis Zuwanderung. Wir wollen Wege aufzeigen, wie Deutschland seinen Wohlstand sichern kann. Wir reden dafür mit Experten und schauen ins Ausland. Wir prüfen die Aussagen der Parteien auf ihren Wahrheitsgehalt und stellen die Kandidaten aus der Region vor. Auf unserer Internetseite RP Online finden Sie darüber hinaus spannende Geschichten, überraschende Videoformate sowie alle Zahlen, Daten und Fakten zur Wahl: www.rp-online.de/bundestagswahl
Zum Auftakt heute starten wir mit einem achtseitigen Sonderprodukt, für das ein zwölfköpfiges Team aus sechs Zeitungsredaktionen in der Republik unterwegs war. Und nur dieser einen Frage nachgehen sollte: Wie tickt Deutschland?