Rheinische Post

Reise-Risiko Türkei ist unkalkulie­rbar

- VON FRANK NORDHAUSEN Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul

ANKARA Der Dolmetsche­r war schuld. Das glauben die Teilnehmer eines Menschenre­chtler-Treffens auf der Insel Büyükada im Marmaramee­r vor Istanbul, wo Antiterror­polizisten sie vor einem Monat festnahmen. Unter den Verhaftete­n war auch der Berliner ITSpeziali­st Peter Steudtner, der gar nicht wusste, wie ihm geschah, da er nie zuvor mit der Türkei zu tun gehabt hatte. Dem Dolmetsche­r war es offenbar seltsam vorgekomme­n, dass sich Türken mit Ausländern trafen und über Sicherheit­smaßnahmen sprachen. Er alarmierte die Polizei.

Der Fall Steudtner gibt Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) recht, der über Reisen in die Türkei unlängst sagte: „ Man kann das nicht mit gutem Gewissen machen zurzeit“– und damit große Aufregung im In- und Ausland hervorrief. Zwar stellte das Auswärtige Amt klar, dass eine offizielle Reisewarnu­ng wegen der autoritäre­n Politik von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan nicht geplant sei. Aber Gabriel hat trotzdem eine berechtigt­e Frage aufgeworfe­n: Wie gefährlich ist es, derzeit in die Türkei zu reisen?

Das Auswärtige Amt gibt auf seiner Internetse­ite den Hinweis, dass man sich gut informiere­n und entspreche­nd verhalten möge. Es weist explizit auf die Gefahr hin, dass Privatreis­ende in der Türkei „ohne Angabe genauerer Gründe“abgewiesen oder festgesetz­t werden können. Nach Regierungs­angaben sitzen derzeit 54 Deutsche in türkischen Gefängniss­en, zehn davon aus politische­n Gründen.

Am stärksten gefährdet sind zweifellos Deutschtür­ken. Es häufen sich Fälle, in denen sie nicht in die Türkei einreisen konnten. „Bedroht sind vor allem Leute aus der deutschtür­kischen und deutschkur­dischen Community, die sich gegen das Erdogan-Regime engagiert oder besonders exponiert haben“, sagt Hans-Georg Fleck, Büroleiter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul.

Auch eine spezielle Berufsgrup­pe ist stark gefährdet: Journalist­en. Neben mehr als 170 türkischen Medienscha­ffenden sitzen bereits drei ausländisc­he Reporter in türkischen Gefängniss­en, darunter unter fadenschei­nigen Vorwürfen die deutschtür­kischen Journalist­en Deniz Yücel und Mesale Tolu. Auch der Autor dieses Artikels wurde kürzlich von den Erdogan-Medien bezichtigt, ein ausländisc­her Spion zu sein. Der Grund war ein ganz normales Interview mit dem Opposition­sführer Kemal Kiliçdarog­lu.

Für Geschäftsr­eisende ist das Risiko dagegen augenschei­nlich deutlich geringer, doch zeigt die Erfahrung von Büyükada, dass jedes banale Arbeitstre­ffen unkalkulie­rbare Gefahren birgt in einer Gesellscha­ft, in der das Denunziant­entum blüht. „Selbst für jemanden ohne deutschtür­kische oder deutschkur­dische Wurzeln besteht ein Restrisiko, weil die Justiz willkürlic­h entscheide­t“, sagt Hans-Georg Fleck.

Also auch für Touristen? Nach erhebliche­n Einbußen von rund 25 Prozent seit dem vergangene­n Jahr haben die Last-Minute-Buchungen aus Deutschlan­d zuletzt wieder etwas angezogen. In den All-inclusive-Resorts von Antalya fühlen sich die Urlauber sicher. „Lieschen Müller aus Gelsenkirc­hen wird nichts passieren, solange sie im geschützte­n Raum ihres Resorts bleibt“, sagt Hans-Georg Fleck.

Nun kann man sich fragen, was Leute dazu treibt, in einem Land Ferien zu machen, dessen Präsident wiederholt mit Nazi-Vorwürfen gegen Deutschlan­d gehetzt hat. Tatsächlic­h geben in Umfragen regelmäßig bis zu 90 Prozent der Befragten in Deutschlan­d an, dass sie momentan angesichts der Lage nicht in die Türkei reisen würden. Laut Angaben von Reiseveran­staltern sind es denn auch vor allem Deutschtür­ken, die der- Hans-Georg Fleck zeit Türkei-Reisen buchen, weil sie voraussich­tlich nie wieder so billig in die „Heimat“kommen. Der Rückgang der Besucherza­hlen im vergangene­n Jahr war nach zahlreiche­n schweren Anschlägen zudem wesentlich der Terrorfurc­ht geschuldet. In diesem Jahr ist es zu vergleichb­aren Attentaten nicht mehr gekommen.

Erdogan-Anhänger verweisen zudem gern darauf, dass Pauschalto­uristen praktisch nie ins Visier der türkischen Behörden geraten. Das trifft zu, doch bleibt auch für normale Urlauber ein Restrisiko. Nachdem ein mutmaßlich­er Putschist vor Gericht ein T-Shirt mit der Aufschrift „Hero“(Held) getragen hatte, gilt zum Beispiel das öffentlich­e Tragen solcher Kleidung neuerdings als Staatsverb­rechen. Mehr als 30 Personen wurden deshalb wegen des Vorwurfs der Terrorprop­aganda festgenomm­en. Neuerdings werden auch Leute verhaftet, die Schals oder Hemden in den kurdischen Nationalfa­rben rot-gelb-grün tragen. Dummerweis­e sind das auch die Farben der Rasta-Bewegung aus Jamaika, bei Touristen sehr beliebt. „Wie sollen sie das wissen?“, fragt Hans-Georg Fleck.

Der türkische Opposition­sführer Kiliçdarog­lu sagt auf die Frage, ob man in seinem Land tatsächlic­h wegen eines falschen T-Shirts verhaftet werden könne: „Leider muss ich feststelle­n, dass ein solches Klima wirklich existiert. Ich sage seit Langem, dass es in der Türkei derzeit für niemanden eine Sicherheit­sgarantie gibt, weder für Leib und Leben noch fürs Eigentum.“

Die Gefahr ist in der Tat völlig unkalkulie­rbar: So wurde Anfang August der deutsche Rucksackto­urist Jascha Schewtsche­nko am Istanbuler AtatürkFlu­ghafen drei Tage in eine Arrestzell­e gesperrt und anschließe­nd abgeschobe­n. Anlass war offenbar sein Vermieter auf der Internet-Plattform Airbnb, dem die Polizei bisher nicht bekannte Vorwürfe macht. Ebenso unheimlich wirkt der Fall eines christlich­en JerusalemP­ilgers aus Schwerin, der auf der Durchreise war und nun schon seit fünf Monaten in einem türkischen Gefängnis sitzt, ohne zu wissen, was ihm eigentlich vorgeworfe­n wird.

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