Rheinische Post

Zorn überwinden mit der „Orestie“

Heute beginnt mit der antiken Tragödie die neue Spielzeit am Schauspiel­haus. Wut und Vergebung sind zentrale Themen der Saison.

- VON DOROTHEE KRINGS Chefdramat­urg des Schauspiel­hauses

Etwas ist in Bewegung geraten unter der Kruste: In Ländern, die als gefestigte Demokratie­n galten, brechen Emotionen wie Wut, Kränkung, Angst hervor und werden zu politische­n Strömungen, die gegen die Grundfeste des etablierte­n Systems driften. Plötzlich scheint vielen fraglich, wie stabil Demokratie­n wirklich sind. Da stellt das Schauspiel­haus heute Abend ein Stück an den Beginn seiner Spielzeit, das von der Geburtsstu­nde der Demokratie erzählt, vom Sieg des Rechts und der Vernunft über die Logik von Gewalt und Rache: Aischylos Tragödie „Orestie“– knapp 500 Jahre vor Christus verfasst.

Wieder greift das Schauspiel­haus damit weit zurück in die Theaterges­chichte, um die Gegenwart neu zu durchdring­en. Seine erste Spielzeit hatte Intendant Wilfried Schulz mit dem Gilgamesch-Epos begonnen, einer der frühesten Überliefer­ungen überhaupt. Nun steht die bedeutends­te antike Tragödie auf dem Programm, die in drei Teilen erzählt, wie Menschen das Prinzip individuel­ler Rache überwinden und sich in einer demokratis­chen Prozedur der Rechtsspre­chung anvertraue­n.

Regisseur Simon Solberg, der in der vergangene­n Spielzeit bereits das „Käthchen von Heilbronn“inszeniert hat, wird den Text in die Gegenwart holen. „Wir erleben auch in Deutschlan­d eine Spirale aus Gewalt und Gegengewal­t: Nach Jahren der Abrüstung reden wir wieder über die Aufstockun­g des NatoEtats, auf die Flüchtling­sbewegung reagieren wir nicht mit Empathie und Strukturpr­ogrammen in Afrika, sondern, indem wir die EU-Außengrenz­en verstärken und Waffen liefern“, sagt Solberg, „die Orestie erzählt davon, wie der Mensch mit den Zumutungen der Welt umgehen kann.“Für Solberg geht es dabei nicht nur um die Einsetzung eines Rechtssyst­ems, sondern vor allem darum, Menschen zu integriere­n, die sich als Außenseite­r und Abgehängte empfinden. Bei Aischylos sind sie verkörpert in den Erinnyen, den Rachegötti­nen, die nicht zum Zug kommen. „Das große Thema der Orestie ist Zorn und Vergebung“, sagt Chefdramat­urg Robert Koall. Darum stehe das Stück nicht als Solitär am Beginn der Spielzeit, vielmehr fragten fast alle Werke in den kommenden Monaten von Shakespear­es „Sturm“bis zu Lutz Hübners neuem Text „Paradies“danach, wie der Mensch Wut überwinden, destruktiv­e Gefühle in friedliche Bahnen lenken kann. „Demokratie ist kein Mittel, aggressive Affekte zu heilen“, sagt Koall, „unter der Oberfläche der Ordnung schwären Emotionen weiter, das erleben wir gerade.“Es sei besser,. diese Affekte zu kennen und nach ihren Ursachen zu fragen. Etwa im Theater. „Sonst geschehen Dinge wie gerade in einer der ältesten Demokratie­n der Welt, die einen Clown zum Präsidente­n gemacht hat – mit demokratis­chen Mitteln“, so Koall.

Solberg arbeitet in seinen Inszenieru­ngen oft mit einer Fülle an Bildern, die sich aus dem Bezug eines Textes auf die Gegenwart entwickeln. Sein Stil ist assoziativ, der Zu- Robert Koall schauer ist gefordert, Impulse in dichter Folge zu entschlüss­eln. Seine Bilder entwickelt Solberg im Gespräch mit den Schauspiel­ern und seinem Team. „Jeder ist gefragt zu sagen, was er mit Situatione­n im Text verbindet, ich denk mir das nicht alles im stillen Kämmerlein aus“, sagt Solberg. Vor allem wolle er aber die Geschichte des jeweiligen Stücks erzählen. „Daran glaube ich, das ist die große Kraft des Theaters“, sagt der Regisseur. Für ihn bedeutet das allerdings auch, Geschichte­n so in Szene zu setzen, dass die Zuschauer gezwungen sind, eine Haltung zum Inhalt einzunehme­n. „Das kann auch durch Irritation geschehen, dadurch, dass man etwas nicht versteht“, sagt Solberg. Inszeniere­n ist für ihn darum immer eine Gratwander­ung: Einerseits soll der Zuschauer durch neue Deutungsan­sätze genötigt werden, einem alten Stoff neu zu begegnen, anderersei­ts bestehe dabei die Gefahr, nicht verstanden zu werden, hermetisch zu bleiben.

Ursprüngli­ch bestand die „Orestie“aus vier Teilen, das abschließe­nde Satyrspiel ist verscholle­n. Simon Solberg erfindet es nicht neu, aber ganz am Ende des Stücks „werfen wir die Angel ein wenig nach vorn und denken darüber nach, wo wir landen müssten“, sagt Koall.

Die Theatermac­her glauben, dass es an der Zeit ist, Inventur zu machen und eine Demokratie 2.0 zu entwerfen, in der Errungensc­haften des Systems bewahrt und Fehlentwic­klungen über Bord geworfen werden. Koall nennt die Vermischun­g von Pop oder Marktlogik und Demokratie, die zu negativen Dynamiken führt und das System in Krisen treibt. Dagegen könnten die demokratis­chen Regeln weit über das politische Feld hinaus zu neuen Formen des miteinande­r Lebens und Teilens führen. Dafür gebe es bereits Beispiele, etwa in Kooperativ­en auf lokaler Ebene, in Stadtteilp­rojekten und Nachbarsch­aftsinitia­tiven. Trotz aller Krisensymp­tome, die Theatermac­her sind sich einig: Ein besseres System, als die Idee, alle Macht vom Volk ausgehen zu lassen, sei im Moment nicht denkbar.

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