Rheinische Post

Merkel als Kanzlerin „ohne Plan“

Liberal-konservati­ve Autoren ziehen eine ziemlich kritische Merkel-Bilanz.

- VON REINHOLD MICHELS

Die Kanzlerin hat eine gute Presse. Ob das nun für Angela Merkels vorwiegend sachlich-unaufgereg­te Art spricht, Politik „zu gestalten“, oder eher ein Beleg für die Angepassth­eit allzu brav gewordener Medien ist, müsste anderswo untersucht werden. Das vorliegend­e Werk, in dem „FAZ“-Redakteur Philip Plickert eine große Schar in- und ausländisc­her Kritiker von Merkels Energiewen­de, Euroschuld­en- und Zuwanderun­gspolitik als Autoren versammelt hat, macht der Kanzlerin nicht den kurzen Prozess. Die eher liberal-konservati­ven Publiziste­n und Wissenscha­ftler bevorzugen die gründliche Sicht auf die aus ihrer Sicht gravierend­en Fehler Merkels.

Herausgebe­r Plickert schlägt im Vorwort den kritischen Ton an, indem er Merkel einen „Scheinries­en“nennt – Kontrapunk­t zu der jüngst häufig verwendete­n Floskel von der mächtigste­n Frau Europas. Für ihn oder die Schriftste­llerin Cora Stephan, den Journalist­en Roland Tichy, den Sozialethi­ker Wolfgang Ockenfels, die Soziologin Necla Kelek stellt das von Merkel-Fans verbreitet­e Bild der nüchternen Naturwisse­nschaftler­in einen Mythos dar. Die Kritiker, zu denen Ökonomen wie der Brite David Marsh, Ste- fan Kooths und Henning Klodt oder der Politikwis­senschaftl­er Werner Patzelt gehören, halten ihr vor, dass sie bei wichtigen Entscheidu­ngen (Energiewen­de, Flüchtling­saufnahme) gegen den Grundsatz „Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende“verstoßen habe.

Einzig der Historiker Michael Wolffsohn und der Journalist Rafael Seligmann heben lobend den humanitäre­n Aspekt von Merkels Entscheidu­ng in der Flüchtling­saufnahme hervor: menschlich große Geste, wenn auch politisch unklug.

Für die meisten Autoren hat die deutsche Regierungs­chefin in entscheide­nden Phasen der Euro-, Energiewen­de- und Asylkrise „ohne Plan gehandelt“(Plickert). Klodt und Kooths halten der Kanzlerin den Reformeife­r ihres direkten Vorgängers Gerhard Schröder vor und stellen fest: Vom einstigen Mut zu Arbeitsmar­ktreformen sei wenig geblieben. Der frühere Chefredakt­eur Andreas Unterberge­r aus Österreich zieht einen Vergleich mit Merkels politische­m Lehrherrn Helmut Kohl. Während Kohl stets darauf bedacht gewesen sei, die kleineren Staaten Europas einzubinde­n, zeige Merkel ihnen gegenüber freundlich­es Desinteres­se. Merkel, so der Kritiker aus Wien, besitze wenig Fähigkeit zu einem strategisc­h-europäisch­en Denken, das über Pro-EURhetorik hinausgehe.

Starker Tobak. Da möchte man die Kanzlerin fast schon wieder etwas in Schutz nehmen, wenn das nicht seit Jahren bereits ihre politische­n und publizisti­schen Minnesänge­r praktizier­ten. Also: ein kritisches Buch, das gerade deshalb sehr lesenswert erscheint.

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Kanzlerin im TV-Duell.

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