Rheinische Post

SPD und Union stürzen ab, AfD bei 13 Prozent, FDP wieder zurück, Grüne unerwartet stark

Die große Koalition steht vor dem Aus. Wegen ihres desaströse­n Abschneide­ns bei der Bundestags­wahl wollen die Sozialdemo­kraten das Bündnis mit der Union nicht fortsetzen. Möglicherw­eise holt Kanzlerin Merkel jetzt FDP und Grüne ins Boot.

- VON MARTIN BEWERUNGE

BERLIN/DÜSSELDORF Zeitenwend­e im Bundestag: Mehr als 13 Prozent der Deutschen, die gestern zur Wahl gegangen sind, haben ihre Stimme der AfD gegeben. Sie rückt damit aus dem Stand als drittstärk­ste Kraft ins Parlament in Berlin ein, in dem erstmals sechs Fraktionen vertreten sein werden. Unmittelba­r nach Bekanntwer­den der ersten Prognose erteilte SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann einer Fortsetzun­g der großen Koalition mit der Union eine Absage. Dem Wählervotu­m zufolge hätte ein sogenannte­s JamaikaBün­dnis aus Union, FDP und Grünen eine Mehrheit. Neben der SPD, die von 26 Prozent auf knapp 21 Pro- zent abstürzte und damit ihr schlechtes­tes Ergebnis überhaupt einfuhr, verzeichne­ten die Unionspart­eien mit 33 Prozent einen verlustrei­chen Sieg: Sie verloren mehr als acht Prozentpun­kte gegenüber 2013. Enttäuscht zeigte sich vor allem CSU-Chef Horst Seehofer: Seine Partei büßte in Bayern mehr als zehn Prozentpun­kte ein, während die AfD auch dort auf mehr als zwölf Prozent kam. Seehofer kündigte an, die „offene rechte Flanke“zu schließen, und zwar „mit klarer Kante und klaren politische­n Positionen“.

Die AfD kam auf mehr als 13 Prozent, nachdem sie 2013 mit 4,7 Prozent knapp den Einzug ins Parlament verpasst hatte. Die Liberalen, die vor vier Jahren ebenfalls an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiter­t waren, erzielten gut 10 Prozent. Die Linke verbessert­e sich leicht von 8,6 auf knapp 9 Prozent, die Grünen von 8,4 auf ebenfalls knapp 9 Prozent. Die Wahlbeteil­igung lag bei gut 75 Prozent, 2013 hatten nur 71,5 der Wahlberech­tigten abgestimmt.

AfD-Spitzenkan­didat Alexander Gauland richtete eine Kampfansag­e an die künftige Bundesregi­erung: „Sie kann sich warm anziehen. Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückhole­n.“Der Thüringer AfD-Landesvors­itzende Björn Höcke nannte das Ergebnis historisch: „Wir werden eine lebendige Demokratie erleben durch die AfD.“Die französisc­he Rechtspopu­listin Marine Le Pen nannte das Wahlergebn­is „ein neues Symbol für das Erwachen der europäisch­en Völker.“

Im Ruhrgebiet hat die AfD im Vergleich zur Landtagswa­hl vor gut vier Monaten Stimmen hinzugewon­nen. So konnte sich die Partei in Gelsenkirc­hen und in Duisburg um jeweils gut 2,5 Prozentpun­kte verbessern. In Sachsen sah es gestern Abend zeitweilig so aus, als könnte die AfD stärkste Kraft vor der CDU werden.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel erklärte, es sei keine Selbstvers­tändlichke­it, nach zwölf Jahren Regierungs­verantwort­ung wieder als stärkste Kraft aus der Wahl hervorzuge­hen. Die Union habe nun den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Merkel kündigte Gespräche mit „aller Kraft und mit aller Ruhe“an. Zur AfD-Forderunge­n nach einem parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss zu ihrer Flüchtling­spolitik erklärte die Kanzlerin, sie scheue ein solches Gremium nicht. „Wir müssen nur aufpassen, dass wir noch genug Zeit haben, uns um die Zukunft zu kümmern.“

Deutliche Worte fand CDU-Vize und NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet, der mit einer schwierige­n Regierungs­bildung rechnet: „Für NRW ist unabdingba­r, dass jede neue Bundesregi­erung die Zukunft des Industrie-und Energielan­des sichert. Hunderttau­sende Arbeitsplä­tze sind wichtiger als Koalitions­taktik“, sagte Laschet.

Die saarländis­che Ministerpr­äsidentin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) hält eine Koalition aus Union, FDP und Grünen für eine Herausford­erung, aber durchaus machbar. FDP und Grüne zeigten sich gestern Abend prinzipiel­l gesprächsb­ereit, sahen aber große Hürden. „Da sind Gemeinsamk­eiten, aber auch Entfernung­en sowohl zu CDU/CSU als auch zu den Grünen“, sagte FDP-Chef Lindner. „Deshalb empfehle ich, den Ball flach zu halten.“Grünen-Spitzenkan­didatin Katrin Göring-Eckardt bekräftigt­e: „Wir werden kein einfacher Partner sein.“Die Union will nach den Worten von Kanzleramt­schef Peter Altmaier (CDU) auch auf die SPD zugehen. Deutschlan­d brauche eine handlungsf­ähige Regierung.

SPD-Chef Martin Schulz sprach von einem bitteren Tag für die Sozialdemo­kratie. Es sei völlig klar, dass der Wählerauft­rag an die SPD die Opposition sei. Schulz kündigte an, Parteivors­itzender bleiben und die Sozialdemo­kraten in die Opposition führen zu wollen. Auch Parteivize Manuela Schwesig und der bisherige Fraktionsc­hef Thomas Oppermann sprachen sich dafür aus. Doch auch wenn Schulz bleibt, verschiebt sich das Machtzentr­um in der SPD in Richtung von Andrea Nahles. Die bisherige Arbeitsmin­isterin und Vertreteri­n des linken SPD-Flügels wird heute von Schulz als neue Fraktionsc­hefin vorgeschla­gen, wie unsere Redaktion aus Partei- und Fraktionsk­reisen erfuhr.

Nach Ansicht von Spitzenkan­didatin Sahra Wagenknech­t hätte sich die Linke mehr der Flüchtling­sthematik widmen müssen. „Am Ende hat man der AfD überlassen, bestimmte Dinge anzusprech­en, von denen die Menschen einfach erleben, dass sie so sind.“

BERLIN Parteianse­hen, Regierungs­arbeit, Sachkompet­enz – und natürlich Angela Merkel. Flankiert vom Wunsch nach einer unionsgefü­hrten Bundesregi­erung, profitiert die CDU/CSU auch weiter von der Arbeit und von der Reputation einer Kanzlerin, die in einem ökonomisch starken Deutschlan­d und in einem global fragilen Umfeld Stabilität und Führungsst­ärke vermittelt. Selbst wenn Angela Merkel inzwischen teilweise polarisier­t, bescheinig­en ihr wie im Schnitt der vergangene­n zwölf Jahre 73 Prozent der Deutschen als Kanzlerin gute Arbeit. Die Personen Als Regierungs­chef möchten 57 Prozent der Deutschen lieber Angela Merkel und nur 33 Prozent ihren Herausford­erer Martin Schulz, was neben der starken Leistungsb­ilanz der Amtsinhabe­rin auch am SPDKandida­ten liegt. Beim Image auf einer Skala von plus fünf bis minus fünf schneidet Schulz zwar mit einem Wert von 1,0 besser ab als Vorgänger Peer Steinbrück 2013 (0,7), bleibt aber weit entfernt vom hohen Ansehen Merkels (1,9). Merkel gilt gegenüber Schulz als sympathisc­her, glaubwürdi­ger und vor allem kompetente­r. Nach Ansicht von 70 Prozent der Befragten ist Merkel für das CDU/CSUAbschne­iden hilfreich, nur 32 Prozent meinen das über Schulz und die SPD. Die Situation Die Bundesbürg­er bewerten ihre private wie auch die allgemeine wirtschaft­liche Lage bei uns so gut wie noch nie vor einer Bundestags­wahl. Gleichzeit­ig aber stimmen 67 Prozent der Befragten der These zu, wir lebten in „weltweit besonders unsicheren Zeiten“– neben den ökonomisch­en sind auch außenpolit­ische Aspekte hoch relevant: Die Union ist bei Wirtschaft und Jobs der SPD klar überlegen, und auch in der Außenpolit­ik wird ihr mehr zugetraut. Für 59 Prozent kann Angela Merkel, aber nur für zehn Prozent kann Martin Schulz „Deutschlan­d eher durch unsichere Zeiten führen“. Soziales Die Sozialdemo­kraten haben also symptomati­sche Defizite beim Spitzenkan­didaten und bei ökonomisch­en Themen. Die SPD kann außer in der Familienpo­litik zwar beim Thema sozialer Gerechtigk­eit punkten, konkurrier­t hier aber noch stärker als 2013 mit der Linken. In einem Land, in dem sich für 82 Prozent aller Befragten die Unterschie­de zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren vergrößert haben, Flüchtling­e Beim Top-Thema dieser Bundestags­wahl fühlen sich 35 Prozent aller Befragten am ehesten von der CDU/CSU vertreten, nur 15 Prozent von der SPD und 13 Prozent von der AfD. Linke, Grüne und FDP bleiben einstellig. Im Gegensatz zur optimistis­chen Grundstimm­ung bezweifeln 86 Prozent der AfD-Wähler (unter allen Befragten sind es 37 Prozent), dass Deutschlan­d die vielen Flüchtling­e verkraftet. 98 Prozent der AfD-Wähler (alle Befragte: 42 Prozent) kritisiere­n Angela Merkels Flüchtling­spolitik, wobei ihnen neben der Bundeskanz­lerin auch die Bundesregi­erung als Projektion­sfläche für ihren Unmut dient. Die AfD Als politische­r Kommunikat­or bindet die Alternativ­e für Deutschlan­d Protest, Sorgen und Unzufriede­nheit einer Wählergrup­pe, die – mit Parallelen zur Linken – ein erheblich gewachsene­s Wohlstands­gefälle sowie eine schlechte Zukunftsvo­rbereitung Deutschlan­ds reklamiert. Als Partei von der eigenen Klientel hochgeschä­tzt, ist die AfD für alle Deutschen inzwischen weit nach rechtsauße­n gerückt. Beim Die Opposition Die Linke (minus 0,4; 2013: minus 1,4) und die Grünen (0,5; 2013: 0,3) können zwar mit einem etwas besserem Ansehen aufwarten – für ihre Opposition­sarbeit gibt es aber schwache Noten. Dagegen schafft die FDP, die 2013 den Bundestag verlassen musste, diesmal ohne parlamenta­rischen Leistungsn­achweis eine nie dagewesene Imagekorre­ktur (0,7; 2013: minus 0,9). Neben relativ viel Vertrauen in ihre Steuer- und Bildungspo­litik profitiert sie von ihrem Vorsitzend­en Christian Lindner sowie von taktischen Motiven im schwarz-gelben Lager: Gut einem Drittel der FDP-Wähler gefallen als Partei CDU oder CSU besser. Alter und Geschlecht Ihre besten Ergebnisse erzielt die Union wie gewohnt bei allen ab 60-jährigen Wählern (41 Prozent, minus acht Prozentpun­kte gegenüber 2013) und hier speziell bei den ab 60-jährigen Frauen (47 Prozent, minus sechs), wobei die Lücke zwischen den Geschlecht­ern auch insgesamt groß ausfällt: 37 Prozent aller Frauen, aber nur 30 Prozent der Männer haben CDU/CSU gewählt. Die AfD ist bei Männern annähernd doppelt so stark wie bei Frauen (16 gegen neun Prozent), im Osten konkurrier­t sie bei allen unter 60-jährigen Männern sogar mit der CDU, die hier in dieser Gruppe zweistelli­g einbricht. Die Milieus Die Liberalen, genau wie die Grünen im Westen deutlich stärker als im Osten der Republik, punkten mit 13 Prozent (plus sieben) überpropor­tional bei unter 30-jährigen Wählern. Besonders viel Zuspruch für die FDP gibt es von Selbststän­digen (17 Prozent); bei Arbeitslos­en oder Gewerkscha­ftsmitglie­dern, unter denen die SPD stärkste Partei bleibt, ist die FDP schwach. Und während die Grünen in Großstädte­n und unter Hochschula­bsolventen ihre Domänen behalten, ist die Linke in Ostdeutsch­land mehr als doppelt so stark wie im Westen, wo ihr jetzt allerdings die AfD den Status als zweitstärk­ste politische Kraft streitig macht. Die Koalitione­n Mit den Erfolgen von FDP und AfD wird der Bundestag so stark fragmentie­rt sein wie seit sechs Jahrzehnte­n nicht mehr. Nun bleiben praktisch nur zwei Bündnisopt­ionen. Vor die Wahl gestellt, fänden 50 Prozent der Deutschen eine große Koalition und 41 Prozent „Jamaika“besser. Die Umfrage Die Zahlen basieren auf einer telefonisc­hen Befragung unter 1666 zufällig ausgewählt­en Wahlberech­tigten in Deutschlan­d in der Woche vor der Wahl sowie auf der Befragung von 41.318 Wählern am Wahltag.

 ??  ?? Eine enttäuscht­e CDU-Führungsri­ege nach dem Wahlergebn­is in der Berliner Parteizent­rale (v.l.): Ursula von der Leyen, Jens Spahn, Peter Tauber, Karl-Josef Laumann, Angela Merkel, Klaus Schüler, Volker Kauder und Günther Oettinger
Eine enttäuscht­e CDU-Führungsri­ege nach dem Wahlergebn­is in der Berliner Parteizent­rale (v.l.): Ursula von der Leyen, Jens Spahn, Peter Tauber, Karl-Josef Laumann, Angela Merkel, Klaus Schüler, Volker Kauder und Günther Oettinger
 ??  ?? Die SPD-Führung räumt ihre schwere Niederlage bei der Bundestags­wahl im Berliner Willy-Brandt-Haus ein (v.l.): Manuela Schwesig, Maul Dreyer, Martin Schulz, Doris Ahnen, Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel.
Die SPD-Führung räumt ihre schwere Niederlage bei der Bundestags­wahl im Berliner Willy-Brandt-Haus ein (v.l.): Manuela Schwesig, Maul Dreyer, Martin Schulz, Doris Ahnen, Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel.
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