RechtsradikaleStraftaten in NRW auf Rekordhoch
4700 rechtsradikal motivierte Straftaten hat Nordrhein-Westfalens Verfassungsschutz im vergangenen Jahr registriert – so viele wie nie. Erstmals im Fokus der Behörde waren auch 1700 Reichsbürger.
DÜSSELDORF/BERLIN Der Verfassungsschutzbericht des Landes für das Jahr 2016 hat sich zum ersten Mal mit der Reichsbürgerbewegung in NRW beschäftigt. Den Nachrichtendiensten sind 2200 Anhänger gemeldet worden, von denen 1700 als tatsächliche Reichsbürger identifiziert wurden. Innenminister Herbert Reul (CDU) bezeichnete die Reichsbürgerbewegung bei der Vorstellung des Berichts als „skurril, aber äußerst gefährlich“. Reichsbürger erkennen die Bundesrepublik nicht an, sind oft gewaltbereit und mit Schusswaffen ausgerüstet. Viele verweigern Steuerzahlungen, haben umgekehrt aber keine Vorbehalte, sich vom Steuerzahler bezahlen zu lassen.
In Nordrhein-Westfalen haben mutmaßliche Reichsbürger vereinzelt schon die Polizei, den Schuldienst und den Justizvollzug unterwandert. Die Identifizierung als Reichsbürger ist laut Reul die entscheidende Voraussetzung, „ um diesen Personen die Waffen wegzunehmen“. Teile der Reichsbürgerszene überschneiden sich mit der rechtsextremistischen Szene.
Die Zahl der rechtsradikalen Straftaten stieg im vergangenen Jahr auf 4700 – sechs Prozent mehr als im Vorjahr. „Das ist ein neues Allzeithoch“, sagte Reul. Darin enthalten ist auch die neue Höchstzahl rechtsmotivierter Gewalttaten: 381 nach 289 im Jahr 2015. Laut Verfassungsschutz-Chef Burkhard Freier war die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsheime allerdings rückläufig. Ebenso die der linksradikal motivierten Straftaten, von denen der Verfassungsschutz 1580 zählte.
Im Auge haben die Nachrichtendienste auch 70 Moscheevereine in NRW. Sie gelten als „islamistisch beeinflusst“. Insgesamt gibt es in NRW rund 850 Moscheen. Die Zahl der Salafisten stieg in NRW im vergangenen Jahr von 2900 auf 3000. Davon stufen die Behörden aktuell 240 als Gefährder ein, denen terroristische Anschläge zugetraut werden.
Eine besondere Gefahr geht laut Reul von Rückkehrern aus Syrien aus, die dort traumatisiert und oft radikalisiert worden seien. 250 Personen seien aus NRW in die Kriegsgebiete gereist, darunter 70 Frauen. 50 Frauen und fünf Kinder seien inzwischen zurückgekehrt. „Viele von ihnen mussten ihre Kinder sterben sehen. Etliche sind traumatisiert und radikalisiert“, warnte Reul.
Auch die Zahl der Gewalttaten von Ausländern unabhängig von islamistischen Motivationen ist stark von 59 auf 205 gestiegen. Der Verfassungsschutz führt das auf den gescheiterten Putsch in der Türkei zurück. Die kurdischstämmigen PKKAnhänger und türkische Nationalis- ten tragen ihre Konflikte offenbar zunehmend auch in NRW aus. Parallel wächst die Zahl der Fälle, in denen NRW-Bürger von türkischen Geheimdiensten ausspioniert werden. Nach früheren Angaben des Innenministeriums sind aktuell rund 170 Menschen im Land im Visier der türkischen Dienste. Die integrationspolitische Sprecherin der Grünen, Berivan Aymaz, sagte dazu: „Der Innenminister muss eine zentrale Anlaufstelle für alle NordrheinWestfalen einrichten, die sich Verfolgung ausgesetzt sehen und Informationsbedarf haben. Das Auswärtige Amt muss zudem endlich offiziell eine Reisewarnung für die Türkei aussprechen.“
Zählten die Behörden vor zehn Jahren noch 349 politisch motivierte Straftaten, so stieg die Zahl im vergangenen Jahr auf 883. Von den 45 Terroranschlägen auf europäischem Boden seit dem Jahr 2000 hätten sich sieben in Deutschland ereignet, so Reul. „Wir sind neben Großbritannien und Frankreich das Hauptziel des Terrors“, fasste der Innenminister die Lage zusammen.
Auch in Berlin standen die Nachrichtendienste im Mittelpunkt. Bei der ersten öffentlichen Befragung von drei Nachrichtendienst-Chefs wurden sowohl Sicherheitslücken als auch Forderungen nach weiteren Befugnissen deutlich. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen verwies auf bis zu 40.000 Islamisten in Deutschland, von denen 10.400 dem Salafismus zuzurechnen seien. Bei ihnen sei der Übergang zu Dschihadismus und Gewalt fließend. Bei 1800 Personen müsse man damit rechnen, dass sie Anschläge vorbereiten oder begehen könnten. Die Polizei habe darunter 700 als Gefährder identifiziert. Die Nachrichtendienste wollen die Kommunikation von Dschihadisten besser und am liebsten live überwachen und auch gefährliche Server im Ausland zerstören.
BERLIN Es ist nicht die Frage, ob Deutschland von einem weiteren Terroranschlag getroffen wird, es geht lediglich darum, wann das geschieht. 30 erfolgreiche Anschläge in Europa in den letzten 20 Monaten, davon sieben in Deutschland, lassen diesen Schluss zu. Umso dringlicher ist es, die Sicherheitslücken zu schließen. Doch die erste öffentliche Befragung der drei Nachrichtendienst-Chefs im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages lässt ahnen, dass die Lücken groß sind und sogar weiter wachsen.
Das Abtasten der deutschen Sicherheitsarchitektur auf Schwachstellen führt schnell zum F-Wort. Politiker sind stolz auf den deutschen Föderalismus, also die Erstzuständigkeit und Mitsprache der Bundesländer in vielen wichtigen Angelegenheiten. Doch Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hat eine andere Sicht darauf. Deutschland leiste sich 18 Inlandsnachrichtendienste. „Eine Steuerung gibt es leider nicht, insofern sind wir einzigartig“, lautet sein Befund. Die Nachrichtendienste könnten sich nicht einmal auf eine einheitliche Formulierung dessen verständigen, was überhaupt nachrichtendienstliche Mittel sind, berichtet der Chef des Militärischen Abschirmdienstes, Christof Gramm. „Harmonisierung ist schwierig“, sagt auch er.
Maaßen greift sie auf, die stets wiederholte Absicht, zu einer stärkeren Vereinheitlichung zu kommen. Doch in seiner Amtszeit seit 2012 ist „die Rechtslage eher noch auseinandergegangen“. Für die Nachrichtendienste gelten 17 verschiedene Gesetze. Anders als bei der Polizei, wo die Bundespolizei Spezialaufgaben neben denen der Länder wahrnimmt, sind beim Verfassungsschutz die Landesämter und das Bundesamt jeweils für identische Aufgaben zuständig. Alle beobachten Rechts- und Linksextremismus, alle verfolgen Isla- mismus, alle kümmern sich um Terrorgefahren und Spionageabwehr, alle übernehmen Observationen, alle halten eine ähnliche Infrastruktur vor. „Ohne Zweifel hat der Föderalismus Vorteile, aber im Sicherheitsbereich nehmen wir immer wieder seine Nachteile wahr“, fasst Maaßen trocken zusammen.
Aber die Architektur ist noch viel störanfälliger, wenn es um Terrorabwehr geht. Das Stichwort liefert CDU-Innenexperte Armin Schuster: Trennungsgebot. Die strikte Abschottung von Nachrichtendiensten auf der einen und Justiz und Polizei auf der anderen Seite sei „in die Jahre gekommen“, sagt der Abgeordnete, ein gelernter Polizist. Nach seinem Eindruck werden die Potenziale der Nachrichtendienste nicht mehr genutzt, sobald ein Staatsanwalt auf der Bühne erscheint.
Es sei „Teil der deutschen Mentalität“, erklärt Maaßen, dass Strafverfolgung Vorrang vor Gefahrenabwehr habe. Nach diesem Prinzip wird detailliert die Schuld eines gefassten Straftäters untersucht, während die Nachrichtendienste außen vor sind, die zur selben Zeit aufklären könnten, ob der Verdächtige Teil eines Terrornetzwerks ist. Die problematische Seite des Trennungsgebots kommt schon semantisch zum Ausdruck. Solange es im Amtsdeutsch um „Gefährdungssachverhalte“geht, sind die Nachrichtendienste zuständig. Handelt es sich aber um „Gefährdersachverhalte“, übernimmt die Polizei. Der Fall Amri, also der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, krankte offenbar genau daran: Die Polizei hatte Amri weiter als Gefährder geführt, also kümmerte sich der Verfassungsschutz nicht darum, welche Gefährdung von ihm ausging. „Dann haben wir doch eine Lücke“, ruft Gremiumsvorsitzender Clemens Binninger (CDU). Es ist bei Weitem nicht die einzige.
Der Chef des Auslandsnachrichtendienstes BND, Bruno Kahl, beklagt die Art und Weise, in der Messenger-Kommunikation verschlüsselt sei. In Echtzeit komme die Terrorabwehr da nicht ran. Immer erst hinterher. Und wenn er bei der Aufklärung im Ausland auf einen Deutschen stoße, der verdächtige Kontakte pflege, dann könne der BND zwar einen Antrag stellen, um Telefonate mitzuhören. Aber seine MessengerKommunikation sei tabu. Noch eine Lücke.
Maaßen äußert in diesem Zusammenhang Wünsche für seinen nachrichtendienstlichen Werkzeugkasten. So hätte er gerne alle IP-Adressen von Computern, über die intensiv Hinrichtungsvideos studiert werden. Die möchte er gerne mit seinen Daten aus dem islamistisch-terroristischen Potenzial abgleichen. Schließlich hätten sich immer wieder Attentäter in der Phase vor ihren Anschlägen mit solchen brutalen Videos für die Tat radikalisiert. Der Verfassungsschutzpräsident möchte zudem auf alle Beteiligten zugreifen können, die mit der Islamisten-Zentrale Rakka kommunizieren. Auch das geht rechtlich nicht. Genauso wie den Diensten die Hände gebunden sind, wenn sie im Ausland auf Server stoßen, die für Attacken gegen Ziele in Deutschland vorbereitet werden oder schon zugeschlagen haben. Dann wäre es sinnvoll, diese Server zu zerstören oder mindestens die in Deutschland abgezogenen Daten zu löschen, bevor die weitergeleitet werden können.
Die nächste Koalition hat also viele Hausaufgaben. Die Grünen wollen eine neue Sicherheitsarchitektur, die Liberalen Dienste zusammenlegen, CDU und CSU einheitliche Mustergesetze für Bund und Länder. Aber bei den Befugnissen der Dienste gehen die Meinungen auseinander. Eigentlich bräuchte man auch auf europäischer Ebene noch mehr Zusammenarbeit. Aber Rufe nach einem EU-Nachrichtendienst lehnen die deutschen Dienste ab. Das sei falsch, sagt Maaßen. Ähnlich sehen es indes die Verantwortlichen von LänderNachrichtendiensten mit Blick auf mehr Bundeskompetenz. Das lässt ahnen, dass die Lücken so schnell nicht geschlossen sind.
„Der Föderalismus hat Vorteile, aber bei der Sicherheit nehmen wir seine Nachteile wahr“Hans-Georg Maaßen Verfassungsschutzpräsident