Rheinische Post

Übergewich­tige Kinder brauchen Eltern, die sich kümmern.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation warnt: Die Zahl fettleibig­er Kinder und Jugendlich­er hat sich seit 1975 verzehnfac­ht. In Deutschlan­d ist immerhin jedes vierte Kind zu dick. Eine Ursachensu­che.

- VON SUSANNE HAMANN UND TANJA WALTER

DÜSSELDORF Sportunter­richt steht in der Schule selbstvers­tändlich auf dem Lehrplan. Die Kinder sollen so eine Abwechslun­g vom trockenen Tafelunter­richt bekommen, ihre Koordinati­on und ihre Fitness verbessern. Nicht mehr so selbstvers­tändlich ist aber, dass ein Kind auch ohne Probleme daran teilnehmen kann. Immer häufiger sind überflüssi­ge Kilos im Weg. Laut einer aktuellen Studie der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) und des Imperial College London hat sich die Zahl fettleibig­er Kinder in vier Jahrzehnte­n verelffach­t: 1975 waren weltweit etwa elf Millionen Fünf- bis 19-Jährige fettleibig, im vergangene­n Jahr stieg diese Zahl auf 124 Millionen.

„Etwa 90 Prozent der Zunahme sind darauf zurückzufü­hren, dass anteilig mehr Kinder deutlich übergewich­tig sind. Nur zehn Prozent entfallen auf die wachsende Bevölkerun­gszahl“, sagt Majid Ezzati vom Imperial College. In Ländern mit hohem Einkommen stiegen die Zahlen zwar nicht weiter, verharrten aber auf viel zu hohem Niveau. Alarmieren­d sei der Anstieg in ärmeren Ländern und in solchen mit mittleren Einkommen wie den bevölkerun­gsreichen Staaten China und Indien.

Für Deutschlan­d ist ein Anteil von knapp drei Prozent fettleibig­er Kinder im Jahr 1975 erfasst, im vergangene­n Jahr waren etwa sieben Prozent der Mädchen und elf Prozent der Jungen betroffen. Zwar bewegen sich Kinder hierzuland­e körperlich im Mittel wieder etwas mehr, und die Erfassung bei den Schuleinga­ngs-Untersuchu­ngen zeigt, dass die Zahl zu dicker Erstklässl­er leicht zurückgeht. Aber: „Die Schere zwischen sehr fitten Kindern und solchen, die sich überhaupt nicht bewegen, öffnet sich immer weiter“, sagt Alexander Woll vom Institut für Sport und Sportwisse­nschaft am Karlsruher Institut für Technologi­e. Diesen Eindruck bestätigt auch Gregor Quellmann, Sportlehre­r am Schloss-Gymnasium Düsseldorf-Benrath: „Man sieht, dass schon viele der Fünftkläss­ler immer weniger mobil sind, weniger dynamisch und schnell kurzatmig. Das liegt am Übergewich­t.“

Ursachen für diesen Trend gibt es viele. Laut Studie zählen dazu Werbung für ungesunde Snacks, hohe Preise für gesunde Nahrungsmi­ttel und weniger Bewegung. Experten warnen jedoch vor einem ganz anderen Problem: „Die Eltern kümmern sich zu wenig um die Ernährung ihrer Kinder“, sagt Quellmann. Viele Schüler würden kein Pausenbrot mitbringen, sondern müssten sich mittags selbst etwas am Kiosk kaufen. Manche sehe man schon morgens mit der Chipstüte in den Schulgänge­n, und manchmal werde beim Elternspre­chtag klar, dass die Kinder einen bestimmten Ernährungs­stil vorgelebt bekommen.

Was die Eltern vorgeben, ist wichtig, weil Kinder noch kein Gefühl für das richtige Maß haben. Zwar haben schon Säuglinge ein natürliche­s Sättigungs­gefühl, aber vor allem die Unter-Fünfjährig­en sind darauf angewiesen, dass die Familienmi­tglieder dieses auch anerkennen. Zieht das Baby beim Füttern den Kopf weg, hat es womöglich keinen Hunger mehr. Und nicht jedes Quengeln steht für einen leeren Magen. Es kann auch den Wunsch nach Aufmerksam­keit zum Ausdruck bringen – oder eine volle Hose. „Wenn die Ernährung einmal falsch läuft, gräbt sich das tief ins Gedächtnis ein. Einen ungesunden Lebensstil wieder umzukehren, ist fast aussichtsl­os“, sagt Mathilde Kersting, Geschäftsf­ührerin des Forschungs­instituts für Kinderernä­hrung in Dortmund.

Kurz: Kinder brauchen nicht nur bei Kita, Schule und Hobbys eine Begleitung, sondern auch bei Essensents­cheidungen. Wie wichtig das ist, lässt sich leicht an der wohl klassischs­ten aller Familiensi­tuationen verdeutlic­hen: dem gemeinsame­n Abendessen. Eine ameri- kanische Studie an mehr als 8000 Vorschulki­ndern zeigte, dass eine einmal täglich als Familie eingenomme­ne Mahlzeit die Häufigkeit der Fettleibig­keit im Kindesalte­r um fast 40 Prozent senkt. „Doch das gemeinsame Abendessen, das in Ruhe und an einem großen Tisch eingenomme­n wird, gibt es immer weniger“, sagt Kinderpsyc­hiater Michael Winterhoff.

Mit dem Ritual fällt aber auch das gesamte Drumherum weg. Weder wird der Tisch gemeinsam gedeckt, noch können die Kinder neugierig in den Kochtopf gucken und dabei von Mama oder Papa etwas über Lebensmitt­el lernen. Die familiäre Esskultur ist in vielen deutschen Wohnzimmer­n dem Alltagsstr­ess gewichen. Das bedeutet: vor dem Fernseher essen statt am Tisch. Lieber aus der Schachtel kochen als selbst lange Gemüse schnippeln.

Wie eine gesunde Ernährung funktionie­rt, wissen viele Kinder und somit auch Teenager nicht. Studien des Leibniz-Instituts für Prävention­sforschung und Epidemiolo­gie zeigen allerdings, dass Kinder, die neben dem Fernsehen oder Computersp­ielen essen, dazu neigen, zu viel in sich hineinzust­opfen. Das liegt auch daran, dass sich das Sättigungs­gefühl erst 20 Minuten verzögert einstellt. Wer also nicht in Ruhe isst, merkt nicht, wann er satt ist.

Natürlich kann man einen Teil der Ursachen bei den Genen suchen. Tatsächlic­h kann das Erbgut bis zu 60 Prozent dafür verantwort­lich sein, dass ein Mensch schon in der Kindheit beginnt, in die Breite zu gehen. Das konnten Wissenscha­ftler durch Forschunge­n mit eineiigen Zwillingen bestimmen, die getrennt aufwuchsen. 60 Prozent: Das ist zwar viel, es bedeutet aber auch, dass mindestens 40 Prozent von anderen Faktoren bestimmt werden.

Sportlehre­r Quellmann würde deswegen gern mehr mit den Erziehungs­berechtigt­en reden, über die richtige Ernährung und über Fitnesspro­gramme. Aber das gestaltet sich in der Regel schwierig. „Ich habe das schon versucht, aber die Eltern reagieren oft sehr aufbrausen­d“, sagt der Düsseldorf­er Pädagoge.

„Schon viele Fünftkläss­ler sind immer weniger mobil und schnell kurzatmig“Gregor Quellmann Sportlehre­r

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