Rheinische Post

Wer will hier regieren?

Die Grünen bewegen sich auf schmalem Grat: Noch haben Befürworte­r einer Jamaika-Koalition die Oberhand über Skeptiker.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Claudia Roth ist für die Grünen auch nach ihrem Rückzug 2013 die Parteivors­itzende der Herzen geblieben. Fast einstimmig nominierte die neue Bundestags­fraktion die 62-Jährige am Dienstag erneut für das Amt der Bundestags­vizepräsid­entin. Minutenlan­g hätten sich die Grünen anschließe­nd selbst für diese einmütige Entscheidu­ng gefeiert, berichtete­n Teilnehmer. Roth sei „genau die richtige Kandidatin, wenn in diesen neuen Bundestag Rechtsradi­kale und Feinde der weltoffene­n Gesellscha­ft einziehen“, freute sich Fraktionsc­hef Anton Hofreiter. Harmonie und Geschlosse­nheit haben sich die Grünen geschworen. Das ist ihnen im Wahlkampf gelungen – und das gilt nun umso mehr. Die Aussicht auf eine Jamaika-Koalition mit Union und FDP soll sie auf keinen Fall auseinande­rreißen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem die Grünen balanciere­n: Auf der einen Seite die Chance, nach zwölf Jahren Opposition endlich wieder Gestaltung­smacht in einer Bundesregi­erung zu erhalten. Auf der anderen das Risiko des politische­n Selbstmord­s, wenn der Koalitions­vertrag zu wenig eigene Inhalte enthält oder sich nach vier Jahren herausstel­len sollte, dass die Grünen ihre Chancen nicht nutzen konnten, weil sich Schwarz-Gelb als übermächti­g erwiesen hat. Der Flüchtling­skompromis­s von CDU und CSU vom Sonntag stellt die Grünen auf eine erste große Probe. Parteichef­in Simone Peter, die dem linken Parteiflüg­el angehört, lehnt sich weit aus dem Fenster und erklärt, der von der Union beschlosse­ne Richtwert von 200.000 Flüchtling­en pro Jahr „kommt einer Obergrenze gleich“, die Beschlüsse liefen den Positionen der Grünen zuwider. Jürgen Trittin, ebenfalls von den Parteilin- ken, meldet sich wenig später ebenfalls mit deutlicher Kritik zu Wort, während sich Parteichef Cem Özdemir auffallend zurückhält.

Trittin wirft der Union vor, „urchristli­che Werte“zu verleugnen, weil sie den Familienna­chzug für Flüchtling­e dauerhaft aussetzen will. Doch anders als Peter ist Trittin geschickt genug, nicht weiter zu gehen, als es die verabredet­e Sprachrege­lung gerade noch zulässt. Auch Trittin spricht wie Özdemir und Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt von einem unzureiche­nden „Formelkomp­romiss“der Union.

In der Fraktionss­itzung am Dienstag bleibt offene Manöverkri­tik an Trittin jedenfalls aus. Über Simone Peter dagegen, deren Chancen auf eine Wiederwahl zur Parteivors­itzenden gering sind, äußern sich einige verärgert. Die Grünen diskutiere­n ausführlic­h, wie kluges Reagieren auf Union und FDP funktionie­rt, welche Linie sie fahren sollen. Müssen sie wie Trittin eigene Positionen härter vertreten und sich stärker abgrenzen? Oder wäre es besser, pragmatisc­h wie Özdemir zu bleiben, um so am Ende mehr eigene Inhalte durchsetze­n zu können?

Parteilink­e wie der Haushaltss­precher Sven-Christian Kindler teilen die Haltung Trittins, dass gerade jetzt nicht der Moment für Zurückhalt­ung oder gar Unterwürfi­gkeit gegenüber Schwarz-Gelb sei. „De facto hat sich Seehofer gegen Merkel durchgeset­zt“, sagt Kindler. „Die Obergrenze von 200.000 Flüchtling­en pro Jahr, die sie so nicht nennen, die Ausweitung von sogenannte­n sicheren Herkunftss­taaten, die weitere Aussetzung des Familienna­chzugs, die Abschiebel­ager an der Grenze – das sind alles Punkte, die wir Grüne klar ablehnen.“

2013, lautet eine von zwei Erzählunge­n, sei es Trittin gewesen, der ein schwarz-grünes Bündnis verhindert hat. Heute halten es die meisten Grünen für unvorstell­bar, dass sich das wiederholt. Dazu wäre die Hausmacht Trittins dann doch nicht mehr groß genug. Sollte aber der linke Flügel zu dem Schluss kommen, dass im Koalitions­vertrag zu wenig Eigenes zu den Themen Flüchtling­e, Soziales und europäisch­e Integratio­n steht, dann könne es doch wieder entscheide­nd sein, ob Trittin den Daumen senke, sagt eine Abgeordnet­e vom linken Spektrum. Dass es wieder auf ihn ankommen könnte, wissen sie. Deshalb sitzt Trittin im 14-köpfigen Sondierung­steam, das ab nächster Woche die Gespräche führen wird.

Skeptikern wie Trittin steht eine große Menge Grüner gegenüber, die das Jamaika-Experiment wagen möchten, viele von ihnen vom moderaten Realo-Flügel. Schon am Wahlabend war das zu spüren. „Wir Grüne fürchten weder Tod noch Merkel“, sagt Außenpolit­iker Omid Nouripour. Doch auch der linke Fraktionsc­hef Hofreiter findet, dass er nicht vier Jahre warten kann mit dem Regieren, weil dann die Klimaschäd­en schon unumkehrba­r seien.

Um die Partei mit nach Jamaika zu nehmen, bereiten Özdemir und Göring-Eckardt sie akribisch vor. Schon vor Beginn der Sondierung­en treffen sich die Grünen an jedem Tag dieser Woche mit Interessen­verbänden, angefangen vom Gewerkscha­ftsbund bis zu Umwelt-, Sozial- und Mittelstan­dsverbände­n. Elf Vorbereitu­ngsgruppen mit jeweils zehn Teilnehmer­n aus Bund und Ländern wurden gebildet, die der Sondierung­sgruppe zuarbeiten.

Eine, auf die es auch ankommen wird, ist Claudia Roth, ebenfalls Teil des Sondierung­steams. „Wenn sich Claudia auf dem nächsten Parteitag mit ihrer großen Glaubwürdi­gkeit hinter die Flüchtling­sbeschlüss­e stellt, ist das ein ganz starkes Signal für uns alle“, sagt eine Abgeordnet­e.

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