Rheinische Post

Morbider Charme des Großbürger­tums

Vornehme Fassade, dahinter Sprachlosi­gkeit: Der Österreich­er Michael Haneke offenbart die Abgründe in einer Unternehme­rfamilie

- VON MATTHIAS VON VIERECK

(dpa) Michael Haneke ist eine feste Größe im europäisch­en Kino. Seinen Ruf erarbeitet hat sich der in München geborene Österreich­er über einen Zeitraum von bald drei Dekaden: mit Kino- und auch TVWerken wie dem verstörend­en „Funny Games“oder der KafkaAdapt­ion „Das Schloss“. Nicht zuletzt aber mit dem epochemach­enden, mehrfach preisgekrö­nten, in Schwarz-Weiß fotografie­rten „Das Weiße Band – Eine deutsche Kindergesc­hichte“aus dem Jahr 2009. Zuletzt war Haneke im Kino präsent mit seinem Drama „Liebe“, das war vor fünf Jahren. Nun legt der 75-jährige Regisseur und Drehbuchau­tor einen neuen Film vor: „Happy End“ist mit einigen großen Namen des europäisch­en Kinos besetzt, darunter Isabelle Huppert und Jean-Louis Trintignan­t.

Haneke, der auch diesmal fürs Skript verantwort­lich zeichnet, erzählt von einer moribunden französisc­hen Unternehme­rfamilie. Auch in seinem neuen Film hat er ein ganz feines Auge für die Insignien des Großbürger­tums: Die Laurents, die ein Bauunterne­hmen ihr Eigen nennen, residieren im küstennahe­n Calais, das üppige Anwesen ausstaffie­rt mit großen Gemälden, stets frischen Blumensträ­ußen, exquisitem Porzellan, raumgreife­nden Sofas und großen Statuen. Beim Frühstück darf die teure Orangenmar­melade nicht fehlen, serviert vom marokkanis­chen Hausangest­ellten Rachid.

Das feine Äußere aber kann hier niemals darüber hinwegtäus­chen, wie marode und malad es im Inneren der Familie aussieht: Es gibt zwei Selbstmord­versuche, der unterkühlt­e Umgang der Familienmi­tglieder miteinande­r macht immer wieder frösteln. Haneke streift die Einzelschi­cksale seiner Figuren mehr, als dass er sie einem wirklich näher bringen würde.

Hie und da mengt der Regisseur stattdesse­n seiner Familien-Geschichte so etwas wie Gesellscha­ftskritik bei. Etwa, indem er die vielen afrikanisc­hen Flüchtling­e ins Bild rückt, die sich in der französisc­hen Hafenstadt aufhalten. In einer so skurrilen wie traurigen Szene sehen wir das von Trintignan­t gespielte, lebensmüde Familienob­erhaupt in einem Rollstuhl, umringt von ratlosen Migranten. Interessan­t auch, welch große Rolle Haneke in „Happy End“den digitalen Medien ein- räumt: So beginnt der Film mit einem Handy-Video der 13-jährigen Ève (Fantine Harduin). Sie ist die Enkelin vom Patriarche­n und trotz ihrer jungen Jahre nicht minder verzweifel­t. Einmal konstatier­t sie in einer Kurznachri­cht: „Ich war fünf, da ist mein Bruder gestorben, es war scheiße“.

Zwar wartet diese „Momentaufn­ahme einer bürgerlich­en europäisch­en Familie“mit einem fulminante­n Ensemble auf. Einen bleibenden Eindruck aber hinterläss­t vor allem ein Schauspiel­er: Franz Rogowski ist der einzige Deutsche unter den Hauptdarst­ellern. Auf sich aufmerksam machte der 31-Jährige bisher vor allem mit seiner vitalen Performanc­e in Sebastian Schippers unkonventi­onellem Berlin-Drama „Victoria“. In den wenigen Momenten, die Rogowski in „Happy End“gegeben sind, entfaltet er eine wunderbare Präsenz. Unvergessl­ich bleiben wird die Szene in einer Karaoke-Bar, die ungemein viel über die Verlorenhe­it der von Rogowski dargestell­ten Figur sagt. Man würde gern mehr über diesen Pierre erfahren – eine Figur, um die herum sich ein ganzer Film stricken ließe.

Haneke, dessen Film im Mai seine Weltpremie­re bei den Filmfestsp­ielen von Cannes feierte, muss sich auch nach „Happy End“nicht sorgen um seine Stellung als einer der wichtigste­n Autorenfil­mer des europäisch­en Kontinents.

Und doch ist festzuhalt­en, dass der 110-Minüter nicht an die Brillanz seiner beiden Vorgänger heran- Bewertung:

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