Rheinische Post

Auf der Suche nach der Schnittmen­ge

Die Sondierung­en von Union, FDP und Grünen haben begonnen. Der Erstkontak­t ist freundlich, aber die Verhandlun­gen werden hart.

- VON J. DREBES, K. DUNZ, B. MARSCHALL, G. MAYNTZ UND H.MÖHLE

BERLIN Die Bilder machen schon in der Nacht die Runde. Bevor es überhaupt zu den Vorgespräc­hen vor den Sondierung­en für mögliche Koalitions­verhandlun­gen kommt, stattet CSU-Chef Horst Seehofer erst einmal den Grünen einen Besuch ab. Das Foto zeigt den großen bayerische­n Ministerpr­äsidenten in der Mitte, flankiert vom Grünen-Chef Cem Özdemir und der Fraktionsv­orsitzende­n Katrin Göring-Eckardt. „Neuland“, sagt sie anschließe­nd. Seehofer sei noch nie dagewesen und habe mal gucken wollen, wie und wo die Grünen so wohnten. Immerhin werden sie in den nächsten Wochen oft ein Zimmer teilen, ein Verhandlun­gszimmer. Und das, obwohl die beiden Parteien so gar nicht zusammenzu­passen scheinen. Und weil es zur Einstimmun­g so schön war, schaut Seehofer gestern Morgen dann auch noch zur Frühstücks­zeit bei der FDP vorbei.

Zwei Limousinen mit Blaulicht und Münchner Kennzeiche­n parken vor der FDP-Zentrale in BerlinMitt­e. Seehofer und FDP-Chef Christian Lindner sind zu einem Vier-Augen-Gespräch verabredet. Nach einer Dreivierte­lstunde kommt eine Mitarbeite­rin vom Ordnungsam­t vorbei und will den Bewachern des Ministerpr­äsidenten fürs Parken auf einem Behinderte­nplatz ein Knöllchen verpassen. Seehofers Fahrer verspricht, sich darum zu kümmern. Die Politesse drückt ein Auge zu. Um kurz vor 10 Uhr kommt Seehofer heraus. Er sieht zuversicht­lich, sogar fröhlich aus. Nun macht er sich auf den Weg zum Vorgespräc­h mit den CDU-Kollegen.

Seit Wochen haben alle Unions-Minister große Synopsen geschriebe­n. Was wollen wir, was wollen die anderen, wo könnte es Kompromiss­e geben, was steht gegeneinan­der? Ob diese Dokumente jetzt schon auf den Tisch kommen? Jedenfalls haben die Spezialist­en für die Fachthemen sie in den Taschen, das Wesentlich­e längst im Kopf. Es geht noch einmal um das unionsinte­rne Streitthem­a Mütterrent­e. Die CSU will sie aufstocken, die CDU höchstens eine Verbesseru­ng bei der Grundsiche­rung. Dabei bleibt es dem Vernehmen nach erst einmal.

Die wohl schwierigs­ten Koalitions­verhandlun­gen in der bundesdeut­schen Geschichte beginnen dann pünktlich um 12 Uhr in den Räumen der Deutschen Parlamen- tarischen Gesellscha­ft gegenüber vom Reichstags­gebäude – zunächst mit einem Vorgespräc­h von Union und FDP, am Nachmittag dann von Union und Grünen. Das ehrwürdige Gebäude ist neutrale Zone. Heimspiel für niemanden.

Strahlend präsentier­en sich die Spitzen von CDU, CSU und FDP dann schon, bevor sie überhaupt miteinande­r gesprochen haben. Sie gehen eigens auf den Balkon, um sich den Fotografen zu zeigen. Lindner winkt und Kanzleramt­sminister Peter Altmaier (CDU) lacht so gelöst, als seien die Verhandlun­gen soeben erfolgreic­h zu Ende gegangen. Etwas strenger wirkt Kanzlerin Angela Merkel. Sie rechnet mit mehreren Wochen, die allein schon die Sondierung­en benötigen werden. Ob noch vor Weihnachte­n weißer Rauch aufsteigen wird? Viele sind skep- tisch. Aber allen ist bewusst, wie ernst die Lage ist. Nur ihre eigene Identität wollen sie deshalb nicht verleugnen müssen.

Bei Union und FDP gibt es Kürbiscrem­esuppe, gefolgt von Frikadelle­n und Blechkuche­n, und neben ersten vertrauens­bildenden Maßnahmen geht es auch gleich um Inhalte. Die FDP hat die fünf „großen E“auf den Tisch gelegt, also „Europa, Einwan- derung, Entlastung, Energie und Edukation“, doch die CSU buchstabie­rt anders, statt Einwanderu­ng spricht sie lieber die Migration an. Alle wissen, dass sie wirklich Neuland betreten, Vier-Parteien-Bündnisse liegen in Deutschlan­d Jahrzehnte zurück, und mit Jamaika kennt sich von den hier Verhandeln­den außer Wolfgang Kubicki in Kiel noch keiner aus. So geht denn prompt auch CSU-Generalsek­retär Andreas Scheuer den alten Schilderun­gen auf den Leim, wonach der „Black River“, der schwarze Fluss, der längste in Jamaika sei – und demnach wohl die schwarzen Linien von größter Bedeutung wären. Inzwischen ist der Fluss aber neu vermessen worden: Der Rio Minho ist deutlich länger. FDP-Generalsek­retärin Nicola Beer zieht einen an- deren Vergleich: Zwischen Berlin und Kingston auf Jamaika lägen 8500 Kilometer – und mit dieser Vorsondier­ung seien „die ersten Meter“gut verlaufen. Bleiben also bis zum erfolgreic­hen Abschluss noch weitere 8499,995 Kilometer. Es geht auf unerforsch­tes Terrain, für Beer ein Fall für die Grundlagen­forschung: Die Forscher wüssten, was sie suchen, aber sie wüssten nicht, was sie finden werden. Versuch und Irrtum. Oder eben Gelingen.

CDU-Generalsek­retär Peter Tauber kommt schon einmal mit einem „guten Gefühl“aus der ersten Runde. „Konstrukti­v“sei man miteinande­r umgegangen. Scheuer unkt aber, dass das nachfolgen­de Gespräch zwischen Union und Grünen ein „härteres Werkstück“sein werde als mit der FDP. So ganz vereinnahm­en lassen will sich die FDP aber doch nicht, die eigens darauf hinweist, dass für sie weiterhin „alle Optionen auf dem Tisch“liegen, und das meint, dass die Liberalen auch „putzmunter­e Opposition“sein wollen, wenn sie ihre Vorstellun­gen nicht durchkrieg­en.

Um 16.25 Uhr kommen die Grünen zu Fuß. Özdemir, Göring-Eckardt, Fraktionsc­hef Anton Hofreiter und Parteichef­in Simone Peter, eingerahmt vom Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner, einem Riesen, und von der Kleinsten aus der Sechser-Gruppe, Fraktionsg­eschäftsfü­hrerin Britta Haßelmann. Der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der SPD-Bundestags­fraktion, Carsten Schneider, stichelt gegen die Grünen: „Man hat den Eindruck, die sind richtig geil darauf.“Knackpunkt­e zwischen der Union und den Grünen dürften vor allem die Flüchtling­s-, Europa- und Agrarpolit­ik werden. In der Sozialpoli­tik könnten Union und Grüne eher zusammenfi­nden als Union und FDP.

Um 19.45 Uhr stellt sich Kellner vor die Kameras und fasst das Gespräch so zusammen: „Es war geprägt davon, nach Lösungen zu suchen, wie Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft organisier­t werden kann. Aber klar ist auch, es ist noch ein ganz schönes Stück des Weges, den man gehen muss.“Seehofer sagt am Abend noch: „Wir wissen alle, wie schwierig es ist, dass hier unterschie­dliche Kulturen zusammentr­effen.“

Nun werden viele Tag- und Nachtsitzu­ngen, Annäherung­en, Rückschrit­te und Hoffnungen folgen. Für die Überschrif­t über den Koalitions­vertrag, der noch geschriebe­n werden muss, gibt es aber schon eine Idee: Jamaika – Insel einer Verheißung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany