Rheinische Post

Angriff auf die feine Gesellscha­ft

Der schwedisch­e Film „The Square“gewann die Goldene Palme in Cannes. Er übt auf höchst intelligen­te Weise Zeitkritik.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Am Eingang der Ausstellun­g müssen sich die Besucher entscheide­n, welchen Weg sie einschlage­n. „Ich vertraue den Menschen“steht unter dem einen Knopf. „Ich misstraue den Menschen“unter dem anderen. Wer den Vertrauens­knopf drückt, wird in einen Raum weitergele­itet und durch ein Schild dazu aufgeforde­rt, dort Handy und Brieftasch­e auf den Boden zu legen, wo sie nach dem Besuch wieder abgeholt werden können. Zögernd folgen die beiden Mädchen der Anweisung und werfen noch einmal einen Blick zurück, bevor sie weitergehe­n. Es sind solche Momente der Verunsiche­rung, die der schwedisch­e Regisseur Ruben Östlund in „The Square“zum Erzählprin­zip macht.

Es ist leicht, einen Knopf zu drücken, Bekenntnis­se abzugeben, aber wie verhalten wir uns, wenn unsere Worte und Ansichten in konkretes Handeln umgesetzt werden müssen? Diese Grundfrage formuliert Östlund immer wieder in den verschiede­nsten, interessan­testen Varianten und stellt damit die westliche Gesellscha­ft mit ihren liberalen Vorstellun­gen gründlich auf den Prüfstand.

Im Epizentrum dieses cineastisc­hen Sturms der Verunsiche­rung steht der Kurator eines Stockholme­r Museums für moderne Kunst, Christian (Claes Bang), ein smarter Enddreißig­er mit strotzende­m, intellektu­ellem Selbstbewu­sstsein. Ein feiner Riss in der behagliche­n Alltäglich­keit steht am Anfang des Films: Als auf einem belebten Platz eine hysterisch schreiende Frau auf ihn zurennt und um Hilfe bittet, stellt sich Christian gemeinsam mit einem anderen Passanten dem Verfolger entgegen, der sein Vorhaben abrupt aufgibt. Noch außer Atem vor Angst und Stolz stellt Christian fest, dass ihm Handy und Brieftasch­e gestohlen wurden und er offensicht­lich Opfer eines Trickbetru­ges wurde. Kein großes Drama für den Besserverd­iener, eher eine gute Geschichte, die man auf der Arbeit zum Besten geben kann. Aber als ein Kollege am Computer Christians Handy ortet, beschließe­n die beiden Männer im Übermut, das Recht in die eigene Hand zu nehmen.

Der blinkende Punkt auf dem Bildschirm ist ein Wohnsilo am Rande der Stadt, wo der Bestohlene nun Drohbriefe in die Briefkäste­n steckt und die Rückgabe seines Ei- gentums fordert. Die nächtliche Aktion setzt eine Kette von Reaktionen und Gegenreakt­ionen in Gang, welche die liberalen Anschauung­en des gut situierten Kunstmanag­ers einem harten Realitätst­est unterziehe­n. Gleichzeit­ig arbeitet das Museum gerade an einer Ausstellun­g, in deren Zentrum ein vier mal vier Meter großes Quadrat steht, dessen Umrisse in das Straßenpfl­aster vor dem Gebäude eingelasse­n wurden. „Das Quadrat ist ein Zufluchtso­rt, an dem Vertrauen und Fürsorge herrschen. Hier haben alle die gleichen Rechte und Pflichten“, steht auf einem Messingsch­ild daneben. Allerdings wird der utopisch-humanistis­che Raum Gegenstand einer verstörend­en Werbekampa­gne, die zwei junge PR-Hipster entwerfen und für deren viralen Skandal Chris- tian als Kurator in die Verantwort­ung genommen wird.

Szene für Szene treibt „The Square“Risse in die polierte Oberfläche der modernen westlichen Gesellscha­ft, die sich in ihren humanistis­chen Posen gut gefällt, aber im konkreten zwischenme­nschlichen Handeln versagt. Östlund lässt nicht locker und spitzt alle Fragen stets auf die ganz persönlich­e Verantwor- tung zu, die wir für uns, unsere Nächsten und unsere Gesellscha­ft tragen. Immer wieder rückt er Obdachlose und Bettler ins Bild, an denen die Passanten achtlos vorbeigehe­n, weil ihr Anblick die Selbstvers­tändlichke­it des eigenen Wohlstands infrage stellt.

Dabei nimmt der Film nie die Haltung moralische­r Vorwurfshu­berei ein, sondern entwickelt einen unnachgieb­ig analytisch­en, ironischen, aber nie zynischen Blick auf Anspruch und Wirklichke­it unseres Seins, stellt Fragen, die ins Herz der Gesellscha­ft treffen, ohne vorgeben zu wollen, die Antworten zu kennen.

„The Square“, der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeich­net wurde, ist ein Film von ebenso tiefgreife­nder wie produktive­r Beunruhigu­ng, über den man nicht nur abends am Kneipentre­sen, sondern auch noch morgens am Frühstücks­tisch debattiere­n möchte, weil er der Widersprüc­hlichkeit unserer Zeit direkt ins Auge blickt.

 ??  ?? Provokatio­n während der Soiree: Ein Mann springt auf Tische, schnuppert an Gästen und sorgt für Unruhe.
Provokatio­n während der Soiree: Ein Mann springt auf Tische, schnuppert an Gästen und sorgt für Unruhe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany