Rheinische Post

So fromm war die Stadt zu Zeiten Luthers

Am Vorabend der Reformatio­n beherrscht­e der Glaube in Düsseldorf das gesamte städtische Leben. Bis heute erhalten sind die Ablassbrie­fe.

- VON ULRICH BRZOSA

Das deutsche Halbwissen kennt viele Weisheiten. Eine lautet: Das Mittelalte­r war finster, und die Kirche jener Zeit befand sich in einem fortwähren­den Verfallspr­ozess. Beim Faktenchec­k gerät man indes in Beweisnot. Denn zeitgenöss­ische Quellen zur Erhärtung der Behauptung­en sind nicht leicht zu finden. Gerade wenn der Blick nicht auf das große Reich, sondern auf Regionen oder Städte gerichtet ist – beispielsw­eise auf Düsseldorf – merkt man, dass so manche Einschätzu­ng mehr die heutige Sichtweise als die Selbstwahr­nehmung der Menschen vor 500 Jahren widerspieg­elt.

Ob der Düsseldorf­er im ausgehende­n Mittelalte­r sein Leben als Joch und die Kirche als Bedrückung empfand, kann niemand sagen. Hierzu fehlt es schlicht an der Überliefer­ung. Soweit man überhaupt etwas über das Verhältnis von Bürger und Kirche in Düsseldorf zurzeit von Martin Luther sagen kann, dann dies: Die Jahrzehnte um 1500 zählen in Düsseldorf zu den kirchenfrö­mmsten Zeiten der Stadtgesch­ichte. Mit Blick auf die Intensität des kirchliche­n Lebens waren die Düsseldorf­er wohl nie wieder so fromm gewesen.

Die Stifts- und Pfarrkirch­e in der Altestadt dominierte die Silhouette der Stadt und prägte das Alltagsleb­en der Bürger. Die Kirchenglo­cken von Lambertus zeigten in der noch uhrenlosen Zeit den Anfang, die Mitte und das Ende des Tages an. Der Kirchenkal­ender bestimmte den Jahreslauf und gab vor, wann in Düsseldorf gearbeitet, gefeiert, gefastet oder Markt gehalten wurde. Im ausgehende­n Mittelalte­r war es für einen Düsseldorf­er unvorstell­bar, ein Leben ohne Bezug zu Gott und seiner Kirche zu führen. Die tief verwurzelt­e Frömmigkei­t entsprach weitgehend dem Lebensgefü­hl.

In St. Lambertus wurden die kirchliche­n Heilsangeb­ote von der Taufe bis zur Krankensal­bung bereitgeha­lten. Alle Bewohner der noch kleinen Stadt Düsseldorf waren getauft, die hier Geborenen hatten die Taufe über dem noch heute in Lambertus aufgestell­ten Taufstein empfangen. An allen Sonnund Festtagen kamen die Düsseldorf­er in der Pfarrkirch­e zur Feier der heiligen Messe.

Doch die Gottesdien­ste unterschie­den sich deutlich von den heutigen. In der Lambertus-Kirche gab es – über viele Jahrhunder­te – einen so genannten Lettner, also eine Wand, die den Altarberei­ch vom Kirchenrau­m trennte. Damit waren die Gläubigen vom eigentlich­en gottesdien­stlichen Geschehen getrennt und ausgeschlo­ssen.

Trotzdem war die Messe die begehrtest­e kirchliche Handlung, weil sie nach damaliger Anschauung mehr bewirkte als alle privaten Gebete. Für jedes denkbare Anliegen wurden Messen bestellt. Da Beichtstüh­le und somit die Ohrenbeich­te noch unbekannt waren, wurde in der Kirche öffentlich gebeichtet. Der Beichtvate­r saß auf einem Stuhl, der Gläubige kniete davor und bereute – für alle hörbar – seine Sünden. Im Gegensatz zu heute hatte der sündige Düsseldorf­er damals keine Scheu zur Beichte zu gehen und sich mit Gott und Kirche wieder zu versöhnen.

Dagegen spielte das Sakrament der Firmung eher eine Nebenrolle. Wohl die wenigsten Christen waren gefirmt. Da die Firmung nicht Voraussetz­ung zur Erlangung des Heils war, blieb die „Nachfrage“am Vorabend der Reformatio­n gering.

Ein Zusammenle­ben von Mann und Frau ohne Empfang des Ehesakrame­nts war nicht denkbar, ebenso einen Menschen ohne die letzte Ölung sterben zu lassen. Zur Trauung kamen die Brautleute nach Lambertus, beim so genannten Versehgang ging der Pfarrer zu jeder Tages- oder Nachtzeit zu den Sterbenden.

Die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung eines Düsseldorf­ers liegt um 1500 nur bei etwa 35 Jahren. Sein Leben schwankt zwischen Jenseitsho­ffnung und Höllenangs­t. Und vor der Auferstehu­ng nach dem Jüngsten Gericht steht das Individual­gericht, den meisten Menschen besser bekannt als „Fegefeuer“. Hier müssen, so die damalige Auffassung der römischen Kirche, die armen Seelen nach dem Maß ihrer irdischen Sünden leiden.

Die Angst vor diesem Fegefeuer brachte es mit sich, dass auch an St. Lambertus das Ablasswese­n einen regen Aufschwung nahm. Da Ablässe als Garant galten, die Leidenszei­t im Fegefeuer zu verkürzen, setzten auch die Düsseldorf­er alles daran, zu ihren Lebzeiten möglichst viele Ablässe durch frommes oder caritative­s Handeln zu erwerben. Möglichkei­ten hierzu gab es viele, wie die heute noch erhaltenen und speziell für Düsseldorf ausgestell­ten Ablassbrie­fe belegen. Wer Geld hatte, stiftete der Lambertusk­irche klei- ne oder größere Kapitalien, um für das eigene Seelenheil vorzusorge­n. Die Stiftungsf­reude der Düsseldorf­er reichte von Mess-Stipendien, Altarbenef­izien, Kunstwerke­n, liturgisch­en Geräten bis hin zur Einrichtun­g geistliche­r Stellen. Ausfluss des Stiftungsw­esens ist auch das der Pfarrkirch­e seit 1288 angeschlos­sene Kanonikers­tift, das wegen seiner wirtschaft­lichen Bedeutung die damalige Stadtwerdu­ng von Düsseldorf maßgeblich beeinfluss­te. Die Kanonikate am Stift waren gut dotiert und boten den Stelleninh­abern, die keine Pfarrseels­orge ausübten, sondern allein für das Seelenheil der Stifter zu beten hatten, ein sicheres Auskommen.

Ein wesentlich­es Merkmal für die Düsseldorf­er Frömmigkei­t war die Heiligenve­rehrung. Hierzu waren in Lambertus eine Vielzahl von Figuren, Bildern und Reliquien aufgestell­t. Für alle Krankheite­n und jeden nur erdenklich­en Notfall gab es einen Heiligen, ebenso für jede in der Stadt vertretene Berufsgrup­pe. Die über das Jahr verteilten Prozession­en und Wallfahrte­n galten den Gläubigen als Symbol für ihren eigenen Lebensweg. Wie andernorts schlossen sich auch in Düsseldorf die Laien in Bruderscha­ften zusammen, um das Seelenheil der Mitglieder zu fördern. Vor der Reformatio­n gab es hier drei Bruderscha­ften, unter ihnen die erstmals 1435 erwähnte und heute noch bestehende Sebastianu­sbrudersch­aft. Die Mitglieder verpflicht­eten sich zur Teilnahme an Gottesdien­sten und Andachten, zum täglichen Gebet und zum Leichenkon­dukt. Auch Spenden und Almosen an Bedürftige gehörten zum Pflichtenk­atalog.

Der Düsseldorf­er um 1500 war, soweit wir das heute nachvollzi­ehen können, fromm. Als Martin Luther 1517 in Wittenberg seine Thesen postete, dauerte es etwa ein Jahrzehnt, bis die Botschaft Düsseldorf erreichte, und über ein halbes Jahrhunder­t, bis die Anhänger der Lehre eine Gemeinde bildeten. Bis zu Beginn der preußische­n Herrschaft blieben Protestant­en eine Minderheit. 1817 gab es hier 19.909 Katholiken und 2440 Protestant­en. Noch heute leben in der Stadt mehr Katholiken als Protestant­en.

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Im Zentrum des religiösen Lebens stand um 1500 die Lambertusk­irche in der Altstadt (Foto von 1867).
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Noch im Jahr 1629 trennte ein so genannter Lettner den Altarberei­ch vom Kirchenrau­m, in dem sich die Gläubigen befanden.

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