Der große Auftakt zu Jamaika
Union, FDP und Grüne sind zu ihrer ersten Sondierungsrunde für eine gemeinsame Koalition zusammengekommen.
FDP-Chef Christian Lindner (M.) sieht noch zu 85 Prozent Unterschiede, die Grünen Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt (r.) schließen ein Scheitern nicht aus. Doch Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU, l.) sind zuversichtlich vor der ersten gemeinsamen Sondierungsrunde für ein Jamaika-Bündnis in Berlin.
BERLIN Zum Auftakt der ersten Sondierungsrunde mit mehr als 50 Politikern im alten Präsidentenpalais gleich gegenüber dem Reichstag sind sich die möglichen JamaikaKoalitionäre überraschend einig: „Gut, dass es endlich losgeht“, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir. CSUChef Horst Seehofer, der nach seinem schlechten Wahlergebnis angeschlagen ist und Erfolge in Berlin braucht, ist darüber sogar „richtig froh“. FDP-Chef Christian Lindner lässt sich sogar dazu hinreißen, vom ersten Treffen der „Kleeblatt-Konstellation“zu sprechen.
Während die angehenden Jamaikaner in Interviews immer noch schlecht übereinander reden, betonen die Parteispitzen gestern Nachmittag ihre Verantwortung fürs Land. Ihr erklärtes gemeinsames Ziel: Die AfD wieder klein zu machen. Der finanzielle Spielraum für Jamaika ist mit etwa 30 Milliarden Euro in vier Jahren allerdings deutlich geringer als von vielen erwartet.
Sie habe die Bereitschaft, „kreativ nachzudenken“, sagt CDU-Chefin Angela Merkel zum Auftakt. FDP und Grüne versäumen es nicht, zu erklären, dass Jamaika auch scheitern könne. Alle Parteichefs schlagen schon mal Pflöcke ein. GrünenFraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nennt Klimaschutz und die Bekämpfung von Kinderarmut als wichtigste Ziele. Seehofer kann von der „Ober“-Diktion nicht lassen und nennt die Themen Migration, Sicherheit, Rente, Pflege und Gesundheit als „Oberziele“. Die Stichworte Digitalisierung, Bildung und Einwanderungspolitik kommen von Lindner. Merkel nennt „Arbeit und Sicherheit“als Prioritäten der CDU.
„Jetzt heißt es, ran die Arbeit“, sagt die Kanzlerin, die gerade erst vom EU-Gipfel aus Brüssel eingetroffen ist. Dort hatte sie der französische Präsident Emmanuel Macron nach der Lage in Deutschland ge- fragt. Mit einem Stoßseufzer antwortete sie: „Es ist kompliziert.“
Schon vor der ersten Runde gestern haben sich die Parteien auf den Zeitplan verständigt: Nach gründlichen Sondierungen bis Mitte November wird feststehen, ob ein Jamaika-Bündnis Deutschland regieren wird. Denn die Verhandlungen in den nächsten drei Wochen sollen so intensiv und tiefgründig geführt werden, dass die eigentlichen Koalitionsverhandlungen dann nur noch der Detailtreue dienen sollen.
Die Grünen wollen das Sondierungsergebnis sogar einem Parteitag vorlegen und diesen abstimmen lassen, ob man damit in Koalitionsverhandlungen eintritt. Die CSU wird neben der Parteispitze auch führende Politiker aus Landtag und Bundestag befragen. Bei den Liberalen soll der Vorstand entscheiden, während die Fraktion mitsprechen soll. Eine Vorstandsklausur ist bei der CDU vor dem offiziellen Start von Koalitionsverhandlungen geplant. Ob diese dann bis Weihnachten beendet sein können, gilt als offen. Danach wollen Grüne und FDP den Koalitionsvertrag ihren Mitgliedern zur Abstimmung vorlegen.
Am späten Nachmittag legen die möglichen Koalitionäre beherzt los. Die Atmosphäre sei „konstruktiv und konzentriert“, berichten Teilnehmer. Merkel, Seehofer, Lindner und Grünen-Chef Cem Özdemir führen kurz ein. Özdemir mahnt dringend Tempo beim Klimaschutz an und weist auf das Problem des Insektensterbens hin. Anschließend stellen Experten jeder Partei zu jedem der vorher verabredeten zwölf Themen ihre Positionen vor. Während die Grünen-Spitze im Wahlkampf noch mutmaßte, der Parteilinke Jürgen Trittin werde in Koalitionsverhandlungen keine Rolle mehr spielen, tritt er nun sogar als erster Grünen-Vertreter gleich beim Thema Finanzen auf. Für die Union ein Déjà-vu: Waren doch die schwarz-grünen Sondierungen vor vier Jahren an den Steuererhöhungsplänen Trittins gescheitert.
Während drinnen der Klimaschutz aufgerufen wird, warten auf dem Platz vor dem Osteingang des Bundestags die Dienstlimousinen mit laufenden Motoren. Die Runde kommt gut voran, nach zwei Stunden sind bereits die Hälfte der Themen angesprochen. Beim Punkt Pflege zeigen die Grünen demonstrative Einigkeit mit der CSU: Pflegekräfte müssten besser bezahlt werden. So etwas hilft bei der Über- windung der Gräben, die es sonst zwischen Grünen und CSU gibt.
Trotz allen guten Willens ist aber das in Teilen tief sitzende Misstrauen noch nicht ausgeräumt. Keinesfalls will die FDP noch einmal das Trauma der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 wieder erleben, als sie sich von der Kanzlerin gedemütigt fühlte und am Ende aus dem Bundestag flog. Der CDU-Vorsitzenden wird ein professionelles Vorgehen bescheinigt. Sie habe als einzige alle „Röntgenaufnahmen“der Beteiligten und ihrer Themen abgespeichert und zeige sich zugleich freundlich verbindlich.
Die Opposition im Bundestag nimmt die Verhandler bereits unter Beschuss, bevor sie überhaupt erste Einigungen vorlegen können. Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht warnt die Jamaika-Unterhändler vor weiterer Demokratieverdrossenheit. Merkel und Seehofer seien wegen des schlechten Wahlergebnisses geschwächt und träfen nun auf nach außen demonstrativ stark auftretende Grünenund FDP-Politiker, sagt Wagenknecht. „Einig sind sich die Jamaika-Koalitionäre aber fatalerweise darin, die bisherige Politik der sozialen Spaltung der Gesellschaft fortzusetzen.“Das sei fahrlässig.