Rheinische Post

Ingo Schulzes Ausflug ins Schelmenla­nd Sachsen

- VON CLAUS CLEMENS

Ingo Schulze hat einen Schelmenro­man geschriebe­n. „Peter Holtz. Sein glückliche­s Leben erzählt von ihm selbst“ist bereits im Titel eine Anspielung auf den „Simpliciss­imus“des Hans Jakob Christoffe­l von Grimmelsha­usen. Bei seiner Lesung im Heine-Haus erzählte Schulze, wie sehr ihn die Vorlage aus dem Dreißigjäh­rigen Krieg inspiriert hat. Die 574 Seiten des Romans sind unterteilt in zehn Bücher, die sich in 109 Kapitel gliedern. Jedes Kapitel beginnt wie bei Grimmelsha­usen mit einer Zusammenfa­ssung des Inhalts.

Wie viel Holtz steckt in Schulze oder umgekehrt? Die Frage von Buchhändle­r Rudolf Müller hatte der 1962 in Dresden geborene Autor erwartet und winkt lachend ab: „Wenn der Titelheld mein Alter Ego wäre, würde ich es sowieso nicht zugeben.“Als Holtz’ Ich-Erzählung einsetzt, ist der Titelheld gerade zwölf Jahre alt. Geboren am 14. Juli, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille, ist er ein glühender Anhänger des DDR-Sozialismu­s und kann dessen Parolen herunterbe­ten: „Hoch lebe die Befriedigu­ng notwendige­r Bedürfniss­e! Nieder mit dem persönlich­en Egoismus, nieder mit dem Privateige­ntum“, ruft der Knabe, als er die Begleichun­g der Zeche in einem Lokal verweigert. Der Autor las dieses erste Kapitel mit sächselnde­m Ton, und man freute sich, eine sympathisc­he Stimme aus dem von rechten Kräften gequälten Bundesland zu hören.

Die Grundidee der Handlung, die 1974 einsetzt und 1998 (vorläufig?) endet, ist eine fehlende Distanz des Individuum­s zum politische­n System. Sowohl anfangs in der DDR als auch später im wiedervere­inigten Deutschlan­d nimmt Peter Holtz den Staat beim Wort. Mit Begeisteru­ng wird er „IM“der Stasi und erzählt allen Bekannten von seiner „staatssich­ernden“Tätigkeit – was naturgemäß zu seiner Entlassung führt. Ähnliches geschieht nach 1989 in der Übergangsp­hase: „Peter wollte jetzt in die SED eintreten. Da haben sie ihn nicht genommen. Also ist er in die Ost-CDU eingetrete­n.“In der Bundesrepu­blik wird dieser OssiSchelm mühelos zum Kapitalist­en.

Auch diese vom Autor gelesenen Kapitel erhielten viel Applaus. Jetzt fehlt noch, dass Ingo Schulze den Grimmelsha­usen-Literaturp­reis erhält. Die nur alle zwei Jahre verliehene Ehrung geht aktuell an Christoph Hein. Immerhin: Dieser Autor ist gleichfall­s im Schelmenla­nd Sachsen aufgewachs­en.

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