Abgrund
Hinter ihr, durch die geschlossene Tür, war leise Hermanns Schnarchen zu hören. Als sie vor zehn Minuten von ihrem Treffen mit Jorge Nuñez zurückgekommen war, hatte er tief und fest geschlafen. Sie hatte ihm schon in Puerto Ayora angesehen, wie müde er war. Hatten die drei Männer auf der Queen Mabel tauchend und vor allen Dingen trinkend über die Stränge geschlagen? Sie bezweifelte das. Hermann pflegte zu Hause in Kiel einen überaus soliden Lebenswandel und trank nur in Maßen. Sie war in diesem Punkt sehr empfindlich. Wer sich mit Alkoholproblemen herumschlug, war bei ihr chancenlos. Hauptkommissar Becker, ihr langjähriger Kollege und Verehrer, hatte das am eigenen Leibe erfahren. Sie kannte Hermann allerdings nicht gut genug, um einschätzen zu können, ob er sich auch in einer reinen Männerrunde im Griff hatte. Wenn drei von seiner Sorte, noch dazu alte Bekannte, zusammen eine Tauchund Bootstour unternahmen, versagten möglicherweise die inneren Kontrollinstanzen.
Und wennschon. Es ging sie nichts an. Hermann war nun wirklich alt genug, um selbst zu entscheiden, wann er wie viel trank. Und vielleicht gab es ja auch ganz andere Gründe für seine Müdigkeit. Im Augenblick interessierte sie das alles ohnehin nur am Rande, denn von ihrer Frühstücksverabredung war sie verwirrt und voll innerer Anspannung zurückgekehrt. Der Kopf schwirrte ihr von all den ungeklärten Fragen. Und ein Verdacht beschäftigte sie, eine Ahnung, der sie unbedingt nachgehen musste. Eben hatte sie mit Jorge noch über einen Fall geredet, der sie nicht betraf, der sich weit entfernt abspielte, wie durch ein Fernglas betrachtet, das sie falsch herum vor die Augen hielt. Und plötzlich war alles zum Greifen nah, und sie steckte mittendrin im Geschehen.
Um Hermann nicht zu wecken, war sie auf Zehenspitzen ins Haus geschlichen und hatte vorsichtig das Flugblatt unter einem Bücherstapel hervorgezogen, dass Lieke und ihre Kollegen am Hafen verteilt hatten. Sie wollte nicht warten, bis Hermann ausgeschlafen hatte. Sie musste es jetzt wissen, sofort. Normalerweise konnte sie sich auf ihre innere Stimme verlassen, aber sie hatte turbulente Tage hinter sich, da war nicht auszuschließen, dass ihre Erinnerung sie täuschte.
Jetzt lag das Flugblatt auf ihrem Schoß, und daneben, in ihrer Hand, hielt sie das Papier, das rund um die letzte Brandstelle aufgetaucht war. Nuñez hatte es ihr überlassen. Eine Kopie, hatte er erklärt. Das Original sei grün.
Sie versuchte sich an ihr Gespräch zu erinnern. Wo genau hatte man die Papiere gefunden?
„Auf acht oder neun Schiffen, die in der Nähe des Tatorts an Bojen lagen“, hatte der Ecuadorianer gesagt. „Ich vermute allerdings, dass wir nicht alle entdeckt haben. Wir hätten dazu im Umkreis jedes einzelne Schiff untersuchen müssen, und wir hatten andere Sorgen. Die Fischer belagerten uns, und wir brauchten jeden Mann. Nachdem der Bootsführer uns das Papier gebracht hatte, haben wir trotzdem zwei Leute abgestellt, um raus in die Bucht zu fahren und nachzusehen. Aber auf ein Blatt mehr oder weniger kommt es ja gar nicht an, oder? Der oder die Brandstifter müssen sie unmittelbar vor oder nach der Tat auf den umliegenden Schiffen deponiert haben. Sie waren sicher nicht so verrückt, später an den Tatort zurückzukehren. Das wäre zu gefährlich gewesen.“
„Man könnte es“, hatte sie geantwortet, „als eine Drohung verstehen, nicht wahr? Im Sinne von: Ihr kommt auch noch dran, wenn . . . Tja, man weiß es nicht. Im Text werden keine Forderungen gestellt.“
„Finden Sie? Vielleicht nicht explizit, aber es wird schon deutlich, was gemeint ist: eine drastische Reduktion aller CO2 erzeugenden Aktivitäten, also Einschränkungen des Flug- und Schiffsverkehrs von und nach Galápagos. Mit anderen Worten: Gefordert wird das Ende des hiesigen Tourismus.“
Das Quietschen der Bungalowtür riss Anne aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um. Schlagartig war sie in Alarmbereitschaft. „Na? Ausgeschlafen?“„Hm. Tut mir leid. Ich wollte gar nicht so lange schlafen. Aber ich war müde. Wir sind die ganze Nacht gefahren, weißt du, von gestern Nachmittag sechs Uhr an, und um fünf bin ich aufgestanden. Und in der Nacht davor . . .“Er gähnte und streckte sich. Die Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf, seine Augen waren klein und verquollen. „Bist du schon lange zurück?“
Sie schüttelte den Kopf und lächelte, besänftigt von dem, was sie sah und hörte. Sie mochte es, wenn er so verschlafen war. Meist war er dann sehr anhänglich. Vielleicht hatte sie sich zu viele Sorgen gemacht, und alles war im Grunde ganz einfach. „Nein, nicht lange. Eine Viertelstunde vielleicht.“Sie klopfte mit der Rechten neben sich auf die Bodenfliesen.
„Komm her. Setz dich zu mir.“
„Wollen wir uns nicht die Stühle rausstellen?“„Komm einfach her.“Er setzte seine knochigen Füße neben die ihren in den Staub, ließ sich nieder und lehnte dann mit einem Seufzer seinen Kopf gegen ihre Schulter. Sie spürte die Wärme seines Körpers, sagte nichts und hielt die Augen geschlossen, wartete.
„Es tut mir so leid, Anne“, sagte er nach einer Weile. „Unsere Fahrt hat sich gelohnt, mehr als das, wir sind vielleicht auf eine echte Sensation gestoßen. Aber ich hätte dich nicht zurücklassen dürfen. Niemals. Schon gar nicht hier in dieser Station. Wir hätten dir wenigstens ein schönes Hotel suchen müssen, wo du dich nicht um jede Kleinigkeit selbst kümmern musst. Aber wir sind so überstürzt aufgebrochen, da habe ich einfach nicht daran gedacht. Und du auch nicht.“Er rieb sich über das Gesicht. „Das hat mir schlaflose Nächte beschert.“
„Nur schlaflose Nächte? Geschieht dir recht.“
„Na ja, und du? Hast dir mit attraktiven südamerikanischen Männern die Zeit vertrieben.“
„Du darfst mich eben nicht so lange allein lassen. Ich kann sonst für nichts garantieren.“
Er richtete sich abrupt auf, aber als er sah, dass sie lächelte, entspannte er sich und lächelte ebenfalls. „Wird nie wieder vorkommen.“Er hielt Mittel- und Zeigefinger in die Höhe. „Ich verspreche es. Nie wieder.“„Vorsicht, man soll nie nie sagen.“Er legte die Arme um ihren Hals und küsste sie. „Es ist schön, wieder bei dir zu sein“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Ich hab dich vermisst.“
(Fortsetzung folgt)