Lindners Angst vor dem Kompromiss
Was FDP-Chef Christian Lindner antrieb, aus den Jamaika-Sondierungen auszusteigen.
BERLIN Irgendwann zwischen 22 und 23 Uhr am Sonntagabend surrt aus einem Drucker in der Landesvertretung Baden-Württemberg eine DIN-A4-Seite. Auf dieser Seite haben die Liberalen ihren Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungen festgehalten. Zweimal gefaltet verschwindet der Ausdruck in der Jackett-Tasche von Christian Lindner.
Es ist jetzt 23.30 Uhr. Lindner kehrt in den Verhandlungsraum zurück. Er verkündet der Kanzlerin, was auf dem Zettel steht und wovon Lindner spätestens seit Donnerstagabend überzeugt ist: Union, FDP und Grüne verfügen über keine gemeinsame Basis, um eine stabile Regierung zu bilden und um das FDP-Versprechen einer anderen Politik einzulösen. CDU-Chefin Angela Merkel, die ewige Siegerin kom- vor, Populismus zu betreiben oder diesen zu befördern.
Lindner wird gewusst haben, dass sein Schritt Empörung auslösen wird. Lieber hätte er sich sicherlich mit der Union vor die Kameras gestellt und erklärt, dass man mit den Grünen nicht zusammenkomme. Dem Vernehmen nach versuchte er am Sonntagmorgen die Unionsunterhändler von einem Abbruch der Sondierungen zu überzeugen – ohne Erfolg.
Lindners Schritt kann für die Unterhändler eigentlich nicht überraschend kommen. Hinter verschlossenen Türen hat er seit Donnerstagabend ein Aus für Jamaika mehrfach ins Spiel gebracht. Die CDU, der das Eingehen auch abenteuerlicher Kompromisse nie wirklich geschadet hat, erkennt aber nicht, dass der FDP-Chef sich innerlich längst von Jamaika abgesetzt hat. Während die Liberalen schon an ihrem Ausstiegspapier tippen, schicken Unionsleute noch SMS, dass die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos sei. Dementsprechend perplex sind die meisten Unterhändler von CDU und CSU, als Lindner vor die Kameras schreitet. Gleiches gilt für die Grünen. „Kein Wort, kein Gruß, nichts – so verlässt man doch nicht Verhandlungen“, sagt ein Unionsmann hinterher. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) steht anderntags die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben über die Entscheidung des Parteichefs, mit dessen FDP er in NRW so reibungslos regiert.
Die Vorwürfe, keine Verantwortung zu zeigen, die Republik in eine Krise zu stürzen, die Verhandlungspartner hintergangen zu haben, lässt Lindner sich alle lieber gefallen, als noch ein einziges Mal die FDP auch nur in die Nähe des Verdachts zu bringen, sie wäre ein „Umfaller“. Diese Sorge treibt den FDP-Chef mehr um als alles andere. Zur Halbzeit der Jamaika-Sondierungen sagte er in einem Interview, dass es für die FDP besonders wichtig sei, „Akzente“in einer Regierung zu setzen. Für die FDP gälten andere Maßstäbe, sagte er. Die FDP würde schneller als „Umfallerpartei“betitelt.
Dieser Titel ist das Trauma der Liberalen. Sie lassen Lindner das Jamaika-Aus mit so merkwürdigen Sätzen begründen wie: „Besser nicht regieren als falsch zu regieren.“Und immer wieder führt er die „Prinzipien“an. Ob er in der Öffentlichkeit tatsächlich des Verrats der Grundsätze gegeißelt worden wäre, wenn der Soli-Ausstieg unter FDPRegierungsbeteiligung nur zu 75