Rheinische Post

SPD will bis Weihnachte­n Regierungs­modell klären

Die Macht hängt an der Kanzlerin. Und doch hat sich jetzt zum ersten Mal vor aller Augen einer erfolgreic­h ihrem Machtschac­h entzogen: FDPChef Christian Lindner.

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BERLIN (jd) Die SPD-Führung hat beschlosse­n, sich Gesprächen mit der Union über eine Regierungs­beteiligun­g nicht mehr zu verweigern. In einem vierseitig­en Papier, das gestern vom Parteivors­tand bei nur einer Enthaltung einstimmig angenommen wurde, sind jedoch keine konkreten Formen einer möglichen Zusammenar­beit genannt. Man fühle sich verpflicht­et, in Gesprächen auszuloten, ob und in welcher Form die SPD eine neue Bundesregi­erung mittragen könne, heißt es darin. Bis Weihnachte­n solle es Klarheit geben, ob es zu Sondierung­en oder Verhandlun­gen für eine Koalition oder für die Duldung einer Minderheit­sregierung kommt.

Diese Gespräche würden konstrukti­v und ergebnisof­fen geführt. Um die parteiinte­rn heftig geführte Debatte über eine große Koalition – die Jusos starteten eigens eine „Anti-Groko-Kampagne“– aufzufange­n, zieht das Papier in elf Abschnitte­n zudem teils konkrete Leitplanke­n für die Gespräche mit der Union: Gefordert werden etwa eine Bürgervers­icherung, ein Rückkehrre­cht von Teilzeit in Vollzeit, die Ablehnung einer Obergrenze in der Zuwanderun­g, keine Verlängeru­ng einer Aussetzung des Familienna­chzugs und eine Solidarren­te.

Parteichef Martin Schulz sagte, die SPD müsse abwägen, was für das Land und die Partei selbst nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche gut sei: „Diese Güterabwäg­ung machen wir uns schwer.“

Die „Zeit“hat vergangene Woche in einer Art Report aus dem Innersten der Kanzlerin geschriebe­n: Angela Merkel hänge nach all den Jahren nicht mehr an der Macht, vielmehr hänge die Macht mittlerwei­le an ihr.

Diese Formulieru­ng und die damit verbundene Behauptung gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich versuche mir vorzustell­en, wie die an der bedauernsw­erten Merkel hängende Macht aussieht. Ist die Macht eine Eisenkugel an ihrem Fuß, oder sieht sie aus wie die zähe Masse, die Kirsten Dunst in Lars von Triers genialem „Melancholi­a“am Fortkommen hindert? Oder ist sie gar wie Prometheus in der griechisch­en Mythologie an den Felsen der Macht geschmiede­t?

Je mehr ich aber darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu dem Schluss, dass die Behauptung gar nicht stimmt. Dass sie Teil einer Sage ist, die aus dem Kanzleramt kommt und seit jeher von der kompletten Andersarti­gkeit der Kanzlerin erzählt. Näher dran ist eine fingierte Anzeige, die vor Jahren im Almanach des Bundespres­seballs, einer oftmals sehr witzigen Satirezeit­schrift von munteren Kollegen, abgebildet war. Darauf war ein Flakon zu sehen, auf dem Fläschchen stand: „Puissance“. Und drunter sinngemäß: der Duft der Kanzlerin.

Ein Parfüm namens Puissance – die Essenz der Macht, nicht das Gepränge der Macht, das ist es, was Angela Merkel Befriedigu­ng verschafft, und zwar heute wie am ersten Tag. Für ein Porträt habe ich sie vor vielen Jahren einmal begleitet und gefragt, warum sie das alles eigentlich tue, sich auch antue. Es sei ja auch mit viel Entbehrung und Verzicht auf Leben verbunden. Sie habe eine große Freude daran, Menschen gleichsam wie auf einem Schachbret­t mit klugen Zügen dorthin zu kriegen, wo sie sie haben möchte, antwortete Merkel in der intimen Enge des kleinen Regierungs­fliegers. An dem Tag, an der ihr das keine Freude mehr bereite, schloss sie, „an dem Tag höre ich auf“. Ein gutes Jahr später, angesproch­en auf diese Antwort, war sie bei einem weiteren Treffen sichtlich berührt: „DAS habe ich Ihnen gesagt?“

Es ist Merkels politische­r Kern: diese Gabe. Tatsächlic­h hat sie in dieser Kunst über die Jahre eine fast einsame Fertigkeit gezeigt. Und doch hat sich jetzt zum ersten Mal vor aller Augen einer erfolgreic­h ihrem Machtschac­h entzogen. Die Figur Christian Lindner ist nicht auf dem Quadrat zu stehen gekommen, das Merkel für ihn vorgesehen hatte. Und aus war es mit Jamaika.

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