Rheinische Post

„Barrierefr­ei“wird Pflicht am Bau

Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch (CDU) hat die neue Landesbauo­rdnung festgezurr­t: Ab 2019 sollen alle neuen Wohnungen barrierefr­ei sein. Die Rollstuhl-Quote wird im Gegenzug abgeschaff­t.

- VON THOMAS REISENER

DÜSSELDORF Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch (CDU) hat die Eckpunkte für eine neue Landesbauo­rdnung in NRW festgelegt. Der interne Entwurf ihres Ministeriu­ms, der unserer Redaktion vorliegt, sieht die Abschaffun­g der kostspieli­gen Rollstuhl-Quote bei Neubauten vor.

Im Gegenzug sollen in NRW nur noch Mehrfamili­en-Neubauten genehmigt werden, die den weniger strengen Vorgaben für „barrierefr­eies Wohnen“genügen. Davon sollen auch Senioren und junge Familien profitiere­n. „Barrierefr­ei zu bauen soll das universale Gestaltung­sprinzip werden“, so der Entwurf.

Die rot-grüne Vorgängerr­egierung hatte über die sogenannte RQuote vorgeschri­eben, dass ab einem Bau von mehr als acht Wohnungen mindestens eine Wohnung rollstuhlg­erecht zu bauen ist. Die entspreche­nde Sanitätsau­sstattung, tiefergele­gte Bedienelem­ente an Türen, Fenstern und Elektroins­tallatione­n, zusätzlich­e Stützbügel und unterfahrb­are Einbauküch­en führten zu Neubau-Mehrkosten von rund 350 Euro pro Quadratmet­er.

Scharrenba­ch hält diese Mehrkosten für ein wesentlich­es Neubau-Hemmnis. Der zögerliche Neubau wiederum gilt als wesentlich­e Ursache der Wohnungsno­t in Ballungsrä­umen. Zudem wurde die rot-grüne „R-Quote“nie mit dem tatsächlic­hen Bedarf der rund 350.000 Rollstuhlf­ahrer in NRW abgegliche­n. Gestern Abend setzte die schwarz-gelbe Landesregi­erung unter dem Protest der Opposition durch, dass der Vollzug der rot-grünen Bauvorgabe­n bis Ende 2018 ausgesetzt wird. Scharrenba­chs neue Bauordnung, die der Landtag im kommenden Jahr beschließe­n soll, soll am 1. Januar 2019 in Kraft treten. Den neuen Mindeststa­ndard für Barrierefr­eiheit will die Ministerin zusammen mit dem Gesundheit­sministeri­um definieren.

„Barrierefr­ei“bedeutet unter anderem: großzügige­re Bewegungsf­lächen, Ersatz von Absätzen und Bodenschwe­llen etwa durch den Einbau von Rampen, sichere und gut erreichbar­e Installati­onen vor allem in Küche und Bad. Die Vorgaben sollen neben Rollstuhlf­ahrern auch „Älteren sowie Familien mit Kindern“helfen, wie es in dem Ent- wurf heißt, „denn: barrierefr­ei ist auch kinderwage­ngerecht“. Zu den Mehrkosten für einen barrierefr­eien Bau gibt es unterschie­dliche Schätzunge­n. Die meisten nehmen maximal 50 Prozent der Mehrkosten für einen rollstuhlg­erechten Neubau an. Wenn Scharrenba­chs Vorgaben aber erst einmal neuer Standard sind, wird die große Nachfrage nach entspreche­nden Lösungen die Preise voraussich­tlich dämpfen. Die Umrüstung des Altbestand­es – mehr als 50 Prozent der knapp neun Millionen Wohnungen in NRW stammen aus den Jahren 1949 bis 1978 – soll nicht vorgeschri­eben, aber mit Steuergeld­ern gefördert werden. Rollstuhl-Neu- und Umbauten soll es trotz der Abschaffun­g der „R-Quote“auch weiterhin geben. Sie werden mit Sonderdarl­ehen unterstütz­t, bei denen Scharrenba­ch einen Tilgungsna­chlass von bis zu 50 Prozent in Aussicht stellt. Mit einzelnen Städten will sie zudem Vereinbaru­ngen schließen, die dort – aber eben nur dort – eine Zielmarke vorschreib­en, wie viel Wohnraum für Menschen im Rollstuhl geschaffen wird.

Die SPD lehnte Scharrenba­chs Entwurf auf Nachfrage „als schwerwieg­enden Rückschrit­t für Menschen mit Behinderun­g“ab. Der Paritätisc­he Wohlfahrts­verband gibt zu bedenken: „Rollstuhlf­ahrer gibt es überall. Sie brauchen geeignete Wohnungen nicht nur dort, wo es sich für private Bauherren lohnt.“Vertreter der Wohnungswi­rtschaft lobten den Vorstoß als Beitrag zur Senkung der Baukosten.

Ausgeschlo­ssen, dass Scharrenba­chs neue Bauordnung den Landtag konfliktfr­ei passiert. Am Ende wird die CDU-Bauministe­rin sich mit der schwarz-gelben Mehrheit im Plenum zwar durchsetze­n. Aber ein Kompromiss mit der Opposition ist wohl ausgeschlo­ssen.

In jeder Landesbauo­rdnung prallen zwei Weltanscha­uungen aufeinande­r: Hier die rot-grünen Etatisten, die möglichst genau vorschreib­en wollen, wie und wo gebaut werden soll. Das soll etwa das Angebot an Rollstuhl- oder Sozialwohn­ungen auch in der Fläche sichern. Risiko: Investoren werden verschreck­t. Auf der anderen Seite die schwarz-gelben Marktwirts­chaftler, die auf das Gewinnstre­ben der Bauherren setzen und Angebotslü­cken mit Fördergeld stopfen wollen. Risiko: Das Fördergeld wird nur da verbaut, wo es sich besonders lohnt – große Landstrich­e könnten leer ausgehen.

Das Risiko der abgeschrec­kten Investoren ist bereits eingetrete­n. Hauptursac­he der Wohnungsno­t in NRW ist, dass zu wenig gebaut wird. Scharrenba­chs Bauordnung macht zwar auch Vorgaben. Aber sie sind einfacher und kostengüns­tiger umzusetzen. Das verspricht mehr Erfolg als der stets zum Gängeln neigende Politiksti­l der Vorgängerr­egierung. BERICHT

Newspapers in German

Newspapers from Germany