Rheinische Post

Es geht doch auch ohne Trubel

Seit mehr als 50 Jahren gibt es in der Johanneski­rche die Zehn-Minuten-Andacht. Eine Ruheinsel. Und für manche ein Ritual.

- VON TORSTEN THISSEN

STADTMITTE Blaulicht dringt durch das Kirchenfen­ster, doch der Verkehrslä­rm bleibt draußen. Etwa 30 Menschen haben in der Johanneski­rche Platz genommen, sie blättern in den roten Gesangbüch­ern, bis Pfarrer Heinz-Werner Frantzmann sie auffordert, gemeinsam „Wir sagen euch an den lieben Advent“zu singen, Lied Nummer 17, Strophe 1 bis 3, die Orgel setzt ein, vorsichtig­er Gesang.

Am 29. November 1965 fand die erste Zehn-Minuten-Andacht in der Johanneski­rche am Martin-LutherPlat­z statt. Seitdem treffen sich jeden Werktag um 18 Uhr, sofern keine außergewöh­nlichen Veranstalt­ungen auf dem Programm stehen, Menschen hier, um zu beten, zu feiern, in sich zu gehen – es gibt viele Gründe, warum sie kommen. Da ist der Tourist, der eher zufällig in die Andacht gerät, da ist der Büroangest­ellte aus der Nachbarsch­aft, der jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an der Kirche vorbeikomm­t, und dann gibt es noch die besonderen Tage, an denen irgendetwa­s Bewegendes passiert ist, ein Anschlag etwa, dann kommen besonders viele, weil sie Antworten in der Kirche zu finden hoffen. Frantzmann, der die Andachten koordinier­t, spürt an diesen Tagen die Unruhe in seiner Gemeinde. „Es kommen mehr, und es kommen andere“, sagt er. Heute ist ein normaler Tag, Adventszei­t natürlich, deshalb sind ungewöhnli­ch viele Menschen in der Kirche. Matthäus 5,14+16 ist das Thema „Ihr seid das Licht der Welt“, die Bergpredig­t, wohl einer der radikalste­n und revolution­ärsten Texte überhaupt.

Klaus Kennin fährt immer aus Benrath in die Stadt. Der 81-Jährige gehört zwar zum Stammpubli­kum, doch meistens kommt er am Mittwoch zum Abendmahl, seit etwa sieben Jahren. Kennin war immer schon religiös, aufgewachs­en ist er in Berlin, wo er als Junge schon in der evangelisc­hen Jugend aktiv war. Meistens sitzt er schon um 17.30 Uhr im Foyer der Kirche und unterhält sich mit den anderen Stammgäste­n. Die Kirche betreibt hier ein Café, „und der Cappuccino ist wirklich gut“, sagt Kennin. Für ihn gehört der Besuch eines Gottesdien­stes zu seinem Leben, es gehe ja auch darum, Grundsätzl­iches zu bewahren, einen „inneren Wertekompa­ss zu haben“. Den sieht er bei vielen Menschen heute nicht mehr. Letztens hat ein Fernsehtea­m auf einem Weihnachts­markt in Berlin die Menschen gefragt, warum man eigentlich Weihnachte­n feiere, nur wenige hätten eine Antwort gehabt. Er hat einen Sohn, auch der ist religiös, „hat das mit Selbstvers­tändlichke­it mitgenomme­n“, sagt Kennin.

Neben ihm sitzt Bernd Strehlitz, der etwa dreimal in der Woche kommt. Es fing vor drei Jahren an, damals war seine Mutter verstorben und die Andacht, sein Glaube, hat ihm geholfen, den Verlust zu verarbeite­n. Strehlitz lebt nun alleine, die Gemeinde ist ein bisschen Familiener­satz, sagt er. „Ich erfahre hier Gemeinscha­ft“, sagt er. Auch er würde sich mehr Präsenz der Kirche wünschen, „die Welt wäre besser“, sagt er, es geht um Lebenslini­en und eine Lebenshalt­ung, um Frieden und soziale Fragen in diesen zehn Minuten. Am Ende der Andacht sagt Frantzmann, dass jeder Mensch das Licht der Welt sein kann, hoffentlic­h auch schon war, wenn er anderen hilft, für andere da ist. Dass Jesus Christus uns ermutigen will und die Adventslic­hter daran erinnern.

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