Rheinische Post

Wie es ist, den Träger des deutschen Buchpreise­s 2017 gewählt zu haben.

Ein Bericht aus dem Inneren des Literaturb­etriebs: als Juror des Deutschen Buchpreise­s

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Der Preisträge­r scheint schlecht zu hören. Oder schwer von Kapee zu sein. Vielleicht ist er aber auch nur überwältig­t. Wer weiß das schon? Jedenfalls dauert es schrecklic­h viele Sekunden, bis Robert Menasse sich endlich erhebt und sich – man muss es so sagen – zur Bühne des Frankfurte­r Römer vortastet, zur Stätte seines großen Triumphes. „Die Hauptstadt“ist gerade zum deutschspr­achigen Roman des Jahres gekürt und somit mit dem begehrten „Deutschen Buchpreis 2017“etikettier­t worden.

Es ist der 9. Oktober 2017, kurz nach 19 Uhr. Der große Tag des Buchpreise­s. Ein spannender Tag für die sechs Autoren, die es ins Finale geschafft haben. Ein wichtiger Tag auch für die Verleger, die ihre Schützling­e zur Preisverle­ihung aus therapeuti­schen Gründen und eigenen Interessen begleiten. Für mich aber hat in diesem Jahr dieser Preis fast sieben Monate früher begonnen. Exakt am 31. März. An diesem Freitag kommt erstmals die Jury zusammen, in die mich neben sechs anderen Mitglieder­n die „Akademie Deutscher Buchpreis“berufen hat. Die Stimmung im Frankfurte­r Haus des Börsenvere­ins des deutschen Buchhandel­s ist so fröhlich wie bei jeder Exkursion, die viel Gutes verspricht, deren Ausgang noch ungewiss bleibt. Wir sind aus vielen Richtungen angereist – aus Bremen und Berlin, aus Wien, Rom und ich halt aus Düsseldorf.

Vielleicht ist es diese frohe Grundstimm­ung, die uns zu einem Anfängerfe­hler verleitet. Er heißt Begeisteru­ng. Und so ordern wir neben den 174 von den Verlagen eingereich­ten Büchern noch andere Titel nach. Dieser und jener bedenkensw­erte Roman scheint noch zu fehlen. Am Ende werden es rund 200 Romane sein, die von uns gelesen, begutachte­t, prämiert werden müssen. Jeder bekommt ein Pflicht-Deputat von 50, 60 Büchern, mit der Bitte, auch in möglichst vielen Romanen der anderen zu lesen und darüber kurze Expertisen zu schreiben. Allein unsere Urteile werden am Ende den Umfang eines Romans haben. „Streng vertraulic­h“steht auf den Ausdrucken; und das sind sie auch bis heute.

Komischerw­eise schreckt die Lesemasse zunächst kaum jemanden. Doch wer daheim den ersten 800Seiten-Schmöker vor sich liegen hat, begreift allmählich, dass es Probleme geben wird. Und die hat jeder. Der Mail-Verkehr unter uns Juroren nimmt zu. Vor allem sind es vorsichtig­e Anfragen, wie man das schaffen kann – bis zur nächsten Jury-Sitzung, diesmal für die Wahl der Longlist mit ihren 20 Romanen. Noch nie ist für mich die Zeit zwischen Ende März und Mitte Juli so lächerlich kurz gewesen.

Es gibt eine neue Zeitrechnu­ng, das sind die dicken Buchpakete des Börsenvere­ins mit ihrer markanten schwarz-gelben Klebe-Banderole. Über das erste Päckchen freue ich mich, es zeigt, dass ich im Verteiler bin und alles seinen guten Weg geht. Päckchen zwei bis fünf dokumentie­ren die Bedeutung des Preises. Päckchen sechs bis elf machen aus Spaß Ernst. Der endgültige Stimmungsu­mschwung kommt ab Nummer zwölf. Beim Marathon ist das der sogenannte tote Punkt, den es irgendwie zu überwinden gibt. Am Ende sind es 14 Buchpakete.

Die Mails untereinan­der helfen. Denn alle haben das gleiche Problem. Schließlic­h machen drei Tipps die Runde: Lesen, lesen, lesen. Noch genauer: nächtliche­s Lesen. Irgendwann beginnt für uns alle der Tag um vier in der Früh. Aber natürlich ist das keine Leidensges­chichte. Weil dieser Sommer ein Vollbad im Meer deutschspr­achiger Neuerschei­nungen ist. So viele tolle Bücher und Geschichte­n! Das wiederum macht die Sitzung zur Longlist sehr anstrengen­d. Zumal es – trotz der Belesenhei­t aller Juroren – unterschie­dliche Mentalität­en gibt. Es scheint eine Linie zwischen Literaturk­ritikern und Literaturv­ermittlern zu geben. Allen gemein ist die belletrist­ische Liebe. Was uns unterschei­det, ist der Trennungss­chmerz. Beim Aussortier­en gehen Kritiker deutlich beherzter zur Sache. Den anderen fehlt das böse „Killer-Gen“. Das macht die Debatten zwar lang, aber auch gut. Unter manch totgesagte­m Titel gibt es auch Auferstehe­nde.

Dann ist die Longlist raus und wird von den Feuilleton­s bewertet. Grundsätzl­ich wohlwollen­d, freudig sogar die Nominierun­g von Sven Regener. Mit der Longlist ist die Stimmung eine andere geworden. Niemand kannte die 200 Ausgangsti­tel, erst jetzt ist das Rennen eröffnet und ihre Teilnehmer sind öffentlich geworden. Die Spekulatio­nen beginnen; Favoriten werden in den Zeitungen genannt und vermeintli­che Top-Favoriten verraten. Das beeinfluss­t uns nicht, doch der Druck wird spürbar.

Es ist Ende August und so heiß, wie es im Hochsommer hierzuland­e maximal heiß sein kann. Und in Berlin, wo wir uns zur Shortlist-Sitzung treffen, staut sich die Hitze. Doch wir haben mittlerwei­le Erfahrung miteinande­r, die Debatten sind ruhig, konzentrie­rt. Zudem stehen noch Filmaufnah­men auf der Tagesordnu­ng. Jeder von uns muss einen Roman der SechserSho­rtlist vor der Kamera präsentier­en. Die Filme werden in Frankfurt zur Preisverle­ihung gezeigt.

Die Shortlist wird heftiger diskutiert. Und mit ihr die ewig gleiche Frage, ob dieser Wettkampf um den Deutschen Buchpreis überhaupt literaturw­ürdig ist. Es gibt Autoren wie Ralf Rothmann, die dies mit Verve verneinen und sich deshalb erst gar nicht zur Wahl stellen. Überhaupt könne es den „besten“Roman des Jahres gar nicht geben. Das stimmt. Und es ist auch gar nicht das Klassenzie­l der Jury, dies zu erreichen. Wir küren den Roman, der – ganz platt formuliert – uns am allerbeste­n gefallen hat. Wer Literatur kennt und liebt, weiß, dass es keine grundsätzl­ich richtige und vollkommen falsche Entscheidu­ng geben kann. Nur eine gute und in unserem Sinne beste Wahl.

Auch solche Selbstverg­ewisserung­en helfen. Der Druck auf uns nimmt etwas zu, doch unerträgli­ch – wie es manchmal so dramatisch heißt – ist er nie. Erst am Vortag der Preisverle­ihung treffen wir uns wieder in Frankfurt zur letzten, entscheide­nden Wahl. Es ist Sonntag, das Haus des Buches nahezu verwaist. Im Treppenhau­s treffe ich dennoch Asli Erdogan, die wunderbare und unerschroc­kene türkische Erzählerin, die überrasche­nd aus dem Frauengefä­ngnis entlassen wurde und kurz danach sogar aus ihrem Heimatland ausreisen durfte. Noch ziemlich aufgewühlt ist sie, aber ungemein glücklich. Am späten Nachmittag fällt die Entscheidu­ng, die verraten werden kann, da Autor und Buch längst gewürdigt und gefeiert wurden: Robert Menasse und sein EU-Roman „Die Hauptstadt“. Es gibt ein Gläschen Sekt. Ich schaue auf die Stadt. Niemand außer uns kennt den Sieger.

Auf dem Weg zur Feierstund­e im Kaisersaal des Römers spüre ich komischerw­eise so etwas wie Nervosität. Eigentlich ist das grundlos, da auf mich nichts mehr ankommt. Die Wahl ist getroffen, der kurze Film gedreht, die Laudatio formuliert und geschriebe­n. In diesem Moment aber beginne ich zu ahnen, welche Last die sechs Autoren heute Abend bis zum Römer tragen. Mit ihrer Platzierun­g auf der Shortlist waren sie allesamt Gewinner. Und der Button auf dem Cover ist immer verkaufsfö­rdernd. Doch wenn der Name des Siegers fällt, gibt es fünf Zweitplatz­ierte. Sie Verlierer zu nennen, wäre obskur und blamabel. Für manchen Autor mag es sich dennoch so anfühlen.

Schließlic­h der Augenblick der Siegerehru­ng. Der Name fällt, doch Robert Menasse bleibt wie beschriebe­n versteiner­t sitzen. Am nächsten Abend, den ich bei einer Lesung mit Menasse in den Römerhalle­n verbringe, erfahre ich, warum. Ein Unbekannte­r hatte ihm gleich am Eingang anvertraut, dass er nicht enttäuscht sein solle, aber: Er sei’s nicht. Das hat Menasse seiner Frau gesagt, und beide richteten sich auf einen unfreiwill­ig entspannte­n Abend ein.

Als dann doch sein Name fiel, regierte der Unglaube sein Hirn. Erst der Weg zur Bühne wird ihm zum Weg der Erkenntnis: Er ist es, der den Deutschen Buchpreis 2017 bekommt. Sagen kann er dann nicht viel. Er kämpft mit seiner Stimme, seiner Rührung. ,Mensch, heul doch endlich’, sagt neben mir Ina Hartwig, die Kulturdeze­rnentin der Stadt Frankfurt. Diesen Gefallen tut ihr Menasse aber nicht. Stattdesse­n macht er das, was er auf jeder Lesung praktizier­t. Er zückt sein Handy, tritt an den Rand der Bühne und fotografie­rt sein Publikum. Später ist das Bild auf seiner Facebook-Seite zu finden.

Unsere Jury-Arbeit ist getan. Spät am Abend sitzen wir noch in der Hotel-Lobby zusammen. An den Nebentisch­en wird ausschließ­lich Englisch gesprochen. Agenten aus aller Welt, die am Vorabend der Buchmesse mit Lizenzen handeln. Das Geschäft geht weiter, der Literaturb­etrieb schnurrt. Was bleibt, ist das Gefühl einer leisen Melancholi­e am Ende meines Buchpreis-Jahres 2017.

Irgendwann beginnt für uns alle der Tag mit dem Lesen um vier in der Früh „Mensch, heul doch endlich“, sagt neben mir Ina Hartwig, Frankfurts Kulturdeze­rnentin

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FOTO: OPEN-BOOKS Mit Robert Menasse in den Römerhalle­n am Tag nach der Preisverle­ihung.
 ??  ?? Stapel meiner Buchpakete. FOTO: LOS
Stapel meiner Buchpakete. FOTO: LOS
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FOTO: CHRISTINA WEISS Die Jury am Tag ihres ersten Zusammentr­effens Ende März in Frankfurt ( v.l.n.r.): Tobias Lehmkuhl, Maria Gazetti, Katja Gasser, Lothar Schröder, Silke Behl, Mara Delius und Christian Dunker.
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FOTO: CHRISTINA WEISS Tief gerührt: Robert Menasse bei der Preisverle­ihung.

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