Rheinische Post

UND DIE WELT Glocken sind wichtige Störenfrie­de

Vielerorts wurden die Kirchenglo­cken aus Lärmschutz­gründen zum Verstummen gebracht. Doch sie wären auch heute noch wichtig.

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Als Kirchen noch im Zentrum auch des öffentlich­en Lebens standen, waren ihre Türme die höchsten Bauwerke. Meist standen sie in der Mitte der Orte, manchmal sogar auf einer kleinen Anhöhe. Als die Kirchen also nicht nur an Festtagen, sondern auch im Alltag für das Leben der Menschen bedeutsam waren, schlugen ihre Glocken noch viertelstü­ndlich einmal und zur vollen Stunde mit anderem Glockenkla­ng jeweils die Zahl der Tageszeit. Das steigerte sich dann um zwölf zu einer pompösen Kulisse.

Mein Großonkel war Küster, und seine Wohnung lag so nah am Kirchturm, dass beim Läuten die Glocken wirklich zum Greifen nahe schienen. Über unser kurzes Aufschreck­en im 15-Minuten-Takt staunte er jedes Mal nur; ihm war das Geläut längst zur inneren Uhr geworden.

Die Glocken, die zum Gottesdien­st gerufen haben und für viele ein besonderer Zeitmesser waren, werden vielfach als Störenfrie­de empfunden und aus Lärmschutz­gründen nur noch zur Messe bedient. Wenn eine Tradition bedroht ist, gibt es in aller Regel eine Kampa- gne. So auch in diesem Fall: Beide christlich­en Kirchen in Deutschlan­d erinnern im „Europäisch­en Jahr des Kulturerbe­s 2018“gemeinsam und vehement ans Kirchengel­äut. Ihr Motto beziehungs­weise ihre Frage: „Hörst du nicht die Glocken?“Da sich vor Ort dazu immer seltener die Gelegenhei­t bietet, nutzen viele Menschen das digitale Klangangeb­ot. Ein vor fünf Jahren auf Youtube hochgelade­nes Video vom Vollge- läut des Kölner Doms wurde bis heute mehr als eine Million mal abgerufen. Das ist schön, genauer: schön traurig. Schließlic­h speist sich dieses Erlebnis nur aus einer Konserve und unterschei­det sich – bei aller ehrlichen Zuneigung – kaum von einem Museumsbes­uch. Dass wir die Glocken in unserem Alltag weitgehend zum Verstummen gebracht haben, hat nicht allein akustische Gründe. Denn als Lärm kann man das Geläut nur dann empfinden, wenn die Glocken für uns keine Bedeutung mehr haben und wir längst anderen Zeiten und Abläufen folgen. Erst dann wird jeder Glockensch­lag ärgerlich, wenn wir auf diese Weise unterbroch­en werden, vielleicht kurz innehalten müssen. Ich kenne eine kleine Dorfkirche, in der früher bei Feueralarm mit einem Hammer der Rand der Kirchenglo­cke angeschlag­en wurde. Der besonders helle Klang ließ aufhorchen. Ein Warnruf, ein Weckruf. Das wäre er aber auch heute noch in vielen Fällen unserer Mühen, das Leben zu meistern. Hörst du nicht die Glocken?

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