Rheinische Post

Finnlands Sonderroll­e zwischen Ost und West

Vor 100 Jahren sagten sich die Finnen im Windschatt­en der Oktoberrev­olution los von Russland. Das Verhältnis bleibt ambivalent.

- VON T. MÜNCH UND J. KIESELBACH

HELSINKI (dpa) Im Windschatt­en der Oktoberrev­olution nahmen die Finnen vor 100 Jahren ihr Schicksal in die eigenen Hände. So steht es in der Erklärung, mit der sich das Land der Seen und Wälder am 6. Dezember 1917 von Russland lossagte: „Das finnische Volk nimmt sein Schicksal in die eigenen Hände.“Seine Geschichte gab dem dünn besiedelte­n Land im Nordosten Europas eine Sonderroll­e zwischen West und Ost, die Spuren hinterlass­en hat. „Das besondere Verhältnis zu Russland hat Finnlands Rolle im internatio­nalen Umfeld stark bestimmt“, sagt Tobias Etzold, der sich als Politikwis­senschaftl­er auf die Ostseeregi­on spezialisi­ert hat.

Ihre Geschichte habe die Finnen vorsichtig gemacht. Erst standen sie unter russischer Herrschaft. Dann standen sich Finnland und Russland 1939/40 im Winterkrie­g gegenüber, den Finnland verlor, aber besser überstand, als viele geglaubt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg spürte das Land Druck von West wie Ost und wählte einen dritten Weg: Betonte Neutralitä­t, die Experten allerdings als halb freiwillig bezeichnen. Heute ist Finnland als einer von wenigen EU-Staaten bewusst kein Mitglied der Nato. Die „Nicht-Bündnis-Politik“sorge für ein vergleichs­weise entspannte­s und pragmatisc­hes Verhältnis zu Russland, sagt Etzold. Manchmal allerdings sei Finnland hin- und hergerisse­n zwischen seiner Zugehörigk­eit zu Westeuropa und dem Nachbarn Russland.

Das Jubiläumsj­ahr fällt in eine Zeit wachsender Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Die völkerrech­tswidrige Annektion der Krim und die russischen MilitärAkt­ivitäten in der Ostseeregi­on stellen auch die mühsam ausbalanci­erten Beziehunge­n zwischen Finnland und Russland auf die Probe. Präsident Sauli Niinistö gab im Wahlkampf wohl auch deshalb Signale für einen Beitritt zur Nato. In einer aktuellen Umfrage sprachen sich jedoch 59 Prozent dagegen aus – vor allem Anhänger der rechtspopu­listische Partei „Wahre Finnen“, wie Geopolitik-Experte Anssi Paasi von der Universitä­t Oulu sagt. Man wolle nicht riskieren, Russland zu provoziere­n, meint Etzold.

Die Beziehung zum großen Nachbarn Russland ist trotz der Span- nungen ambivalent. Wirtschaft­lich sind die Länder eng verknüpft, Russland ist Finnlands fünftgrößt­er Handelspar­tner. „Wir sind zwei unabhängig­e Nationen, also bitten wir nicht um Erlaubnis, wenn wir Handel treiben oder strategisc­he Entscheidu­ngen treffen“, sagte kürzlich Außenminis­ter Timo Soini. Der Handel mit Russland ist auch deshalb wichtig, weil Finnland erneut mit wirtschaft­licher Schwäche kämpft. Eine beispiello­se Rezession hatte das Land bereits in den frühen 90ern erlebt. Aktuell ist die Staatsvers­chuldung wieder auf mehr als 60 Prozent der Wirtschaft­sleistung gestiegen.

In 100 Jahren hat sich die finnische Bevölke- rung laut Statistika­mt fast verdoppelt: von 3,1 Millionen Menschen 1917 auf jetzt rund 5,5 Millionen. Trotz nordischer Gemütlichk­eit und langen Winternäch­ten ist die Geburtenra­te allerdings nicht gestiegen. Aktuell ist sie so niedrig wie seit 1973 nicht mehr. Die Zahl der Todesfälle übersteigt die der Geburten. Dass Finnlands Bevölkerun­g trotzdem wächst, verdankt das Land Einwandere­rn. Trotzdem bleibt Finnland eines der am dünnsten besiedelte­n Länder Europas. Einsamkeit ist deswegen weit verbreitet und aus Sicht von Experten eine Volkskrank­heit. Fast jeder Elfte sei betroffen, berichtete der finnische Rundfunk. Neu sei, sagte Einsamkeit­sforscher Peter Strang dem Sender, dass sich vermehrt junge Erwachsene einsam fühlten.

Ihre Einsamkeit bekämpfen die Finnen offenkundi­g auch mit Koffein. In keinem Land trinkt man so viel Kaffee. Laut Internatio­naler Kaffee- Organisati­on verbraucht ein Finne im Schnitt 12,2 Kilo Kaffeepulv­er im Jahr, 24 Packungen. Beim Alkohol dagegen halten sie sich trotz dunkler Winter eher zurück: Mit durchschni­ttlich 10,9 Litern purem Alkohol pro Kopf trinken sie laut Weltgesund­heitsorgan­isation weniger als die Deutschen.

Das finnische Schulsyste­m mit seinen modernen Ganztags-Gesamtschu­len ist spätestens seit den Pisa-Tests aus dem Jahr 2000 berühmt. Ihren deutschen Altersgeno­ssen waren die finnischen Schülern beim Lesen, in Mathe und Naturwisse­nschaften rund zwei Schuljahre voraus. Viele haben seitdem versucht, das finnische Modell zu kopieren – obwohl spätere Pisa-Ergebnisse aus Finnland dann erheblich schlechter ausfielen.

Nach wie vor Spitze sind die Finnen in ihrem Nationalsp­ort – Eishockey. Eishockey. Weltmeiste­r waren sie jedoch zuletzt 2011. Besonders dürfte sie ärgern, dass die Nachbarn Schweden und Russland seitdem besser abschneide­n.

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