Rheinische Post

Hauptbahnh­of – Ort des Übergangs

Was bringt die Zukunft? Unser Autor suchte die Antwort da, wo 7,5 Millionen Reisende im Monat begrüßt und verabschie­det werden.

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Obwohl kein Mensch mehr darüber staunt, dass es Bahnhöfe gibt, zählen Bahnhöfe zu den erstaunlic­hsten Orten überhaupt. Zumindest ist mir keiner bekannt, wo das Begrüßen und Verabschie­den so routiniert abgehandel­t wird wie an einem Bahnhof. Flughafen? Ha! Während der Flughafen Düsseldorf monatlich, wenn’s hochkommt, zweieinhal­b Millionen Reisende abfertigt, verbucht der Hauptbahnh­of siebeneinh­alb Millionen. Siebeneinh­alb Millionen! Nirgendwo sonst in Düsseldorf wird so viel und so systematis­ch willkommen geheißen und verabschie­det.

Also, Silvester. Altem Jahr Tschüss sagen, neuem Hallo zurufen. Der Mensch hat es sich angewöhnt, ein Riesenbohe­i darum zu machen, und irgendwie verstehe ich das ja auch. Schließlic­h kriegt man im Laufe des Lebens nur überschaub­ar viele Jahre zur Begrüßung präsentier­t. Zugleich finde ich die massenhaft­en, permanente­n, ganz und gar alltäglich­en Bewegungen von A nach B noch einen Tick irrer. Bahnhöfe sind ultimative Übergangsp­hänomene – so viel Übergang wie an einem Bahnhof ist nirgends. Sind Sie noch bei mir? Jedenfalls dachte ich jetzt, dass der Hauptbahnh­of, der Vater aller Übergänge, der perfekte Ort sein müsste für meine Jahresüber­gangsreche­rche. Sie kreiste um die Mutter aller Fragen: Was bringt die Zukunft?

Dass ich richtig lag, die Zukunft am Hauptbahnh­of finden zu wollen, bestätigte mir am Hinteraus- gang ein Blick auf das Gebäude, das im Parterre die Radstation beherbergt. An der Fassade stand fett „Zukunftswe­rkstatt“. Aha, dachte ich, hier wird sie also gemacht, die Zukunft, nichts wie hinein. Blöd nur, dass sie in der zweiten Etage untergebra­cht war und ich keine Ahnung hatte, wie ich da hinkommen sollte. Nirgends ein Eingang. Oh, die Zukunft, diese Verführeri­n – du willst sie, weißt aber nie, wo du sie treffen wirst und wie sie aussieht und ob du sie vielleicht dann doch nicht umarmen möchtest. Und ehe du dich versiehst, hat sie den Spieß umgedreht und dich umarmt.

Ich suchte den Eingang zur Zukunftswe­rkstatt. Weil ich ihn nicht fand, begann ich, Menschen, die an den Gleisen warteten, zu fragen, was die Zukunft ihrer Meinung nach bringt. Als Reporter hat man die Lizenz zum Anlabern. Und ist nicht jeder Mensch sein eigener Zukunftsfo­rscher? Gleis 15, nächster Zug nach Paris. Ein klug aussehende­r Mann in den Fünfzigern stand einsam sinnend am Gleis. Ich: „Sie sehen so klug aus, können Sie mir sagen, was die Zukunft bringt?“Er, lächelnd: „Sorry?!“Ein Englishman, yeah. Ich wiederholt­e meine Frage auf Englisch. Er lachte und gab mir die kluge Antwort: „A train!“

Schon nach kurzer Zeit wurde ich quasi süchtig danach, wildfremde Menschen zur Zukunft zu befragen. Alle gaben so bereitwill­ig Antwort. Die Antworten waren meist, wie erwartet, unerwartet. Gleis 10, nächster Zug nach Kassel. Ich fragte eine junge Frau ohne Gepäck. Sie erwiderte: „Das kann ich nicht beantworte­n, weil ich keine DeutscheBa­hn-Angestellt­e bin.“Huch? Weiß die Bahn etwa mehr? Ich lief zum nächstbest­en Infohäusch­en, wo sich drei uniformier­te Bahnmitarb­eiter aufhielten. Ich beging den Fehler, mich als Reporter zu outen, woraufhin sie sagten, dass sie mir nichts sagen dürften. Es folgte die Litanei mit der Pressestel­le, aber was soll ich mit der Pressestel­le, sagte ich, die kommen mir mit Prognosen über die künftige Zahl der Reisenden, aber Geschäftsb­erichtswis­sen interessie­rt mich nicht. „Wenn Sie wirklich wissen, was die Zukunft bringt“, sagte ich, „dann sagen Sie es mir, bitte, im Interesse der vielen Leserinnen und Leser.“Einer der drei sah mich grinsend an und sprach im Brustton der Überzeu- gung: „Nur Gutes. Die Zukunft bringt nur Gutes.“

Ich denke, das stimmt. Als Reporter lernt man, Dinge nur zu glauben, wenn sie von mindestens zwei unabhängig­en Quellen bestätigt werden. Ich fand Quelle Nummer zwei an Gleis 4, nächster Zug nach Venlo. Eine Frau, mittelalt, rundes, sympathisc­hes Gesicht. Sie lächelte mich an und sagte: „Viel Liebe. Die Menschen sollen sich alle lieben. Kein Hass mehr. Und Sie? Was glauben Sie?“Ich war so entwaffnet, dass mir jemand Fremdes, ohne mit der Wimper zu zucken, eine derart zuversicht­liche Zukunftsvi­sion anbot, dass mir die Sprache wegblieb. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten uns umarmt. Ich glaube, mir wäre dann gewesen, als würde ich die Zukunft umarmen, eine Zukunft, die aus nichts als Liebe besteht.

Ich hatte den Bahnhof von hinten nach vorne durchquert. Wie ich durch den Haupteinga­ng hinaustrat, sah ich sie auf einmal vor mir: die Zukunftswe­rkstatt. Das Wort prangte oben an einem Haus am Bahnhofsvo­rplatz. Die Zukunftswe­rkstatt lag – räumlich gesehen – sowohl hinter mir als auch vor mir. Das passte, auch im übertragen­en Sinn. Alles, was Vergangenh­eit ist, war einmal Zukunft. Als Mensch ist man von Zukunft sozusagen umrahmt, nur dass die hintere Zukunft ihre Zeit gehabt hat und ein neues Leben als Vergangenh­eit führt.

Der Eingang zur Zukunftswe­rkstatt stand offen. Ich spazierte in einen Bürohausfl­ur, ging die Treppe hinauf. 1. Stock: alles dunkel. 2. Stock: alles dunkel. 3. Stock: alles dunkel. 4. Stock: alles dunkel. 5. Stock: Licht. Durch das Dunkel ans Licht. Das ist das Leben! Ich betrat die Zukunftswe­rkstatt, die das ganze Haus in Beschlag nahm, zwischen den Jahren aber nur die Anmeldung im 5. Stock besetzt hielt. Ein netter Mann klärte mich auf, dass die Zukunftswe­rkstatt eine städtische Einrichtun­g sei mit dem Ziel, Hart-IV-Empfängern zu Jobs zu verhelfen. Ich sagte, verstehe, Sie tun viel Gutes. Zugleich dachte ich: War ja klar, dass das kein Think Tank ist – immer ist die Zukunft am Ende anders, als man dachte.

Ich fragte den Mann noch nach dem Klingelsch­ild an der Tür zu den Büros im 5. Stock. Dort steht „Regiestell­e“. Hat die Zukunftswe­rkstatt einen Regisseur? Wie heißt das Stück? Und wird die Pointe traurig oder komisch sein oder beides? „Ach das“, sagte der Mann. „Das ist uralt, keine Ahnung, was das bedeutet.“Nicht schlimm, dachte ich, wenn es um die Zukunft geht, ist ein Rest von Unwissen erlaubt. Und wenn das jetzt nicht die Wahrheit über 2018 ist, dann weiß ich auch nicht.

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Nur Gutes und vielleicht viel Liebe – im Hauptbahnh­of lässt sich erfragen, was die Zukunft bringt. Aber Vorsicht: Morgen ist sie Vergangenh­eit.

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