Rheinische Post

Marie Müller ist 104 Jahre und richtig fit

- VON TANJA KARRASCH

Es gab einen Moment in Marie Müllers Leben, dessen Erinnerung ihr auch nach mehr als 70 Jahren noch Tränen der Wut in die Augen treibt. Es ist 1946, sie ist 33 Jahre alt und hat gerade ihre zweite Tochter bekommen. In einem Viehtransp­orter wird sie mit ihrer Familie und anderen Menschen zusammenge­pfercht. Von den Tschechen vertrieben müssen sie ihren Bauernhof im Sudetenlan­d verlassen, einfach alles stehenlass­en. Eine achttägige Reise ins Ungewisse beginnt. In Bayern dürfen sie aussteigen, vor einem Hotel. Sie seien dreckig gewesen, voller Läuse, erinnert sich Marie Müller. Die kleine Tochter in ihrem Arm sei fast verhungert gewesen und voller Schmutz. „Da habe ich die Hotelbesit­zerin gefragt: Schauen Sie, mein Kind ist ganz dreckig. Kann ich das kurz im Waschbecke­n säubern?“ Die Antwort verletzte: „Was glauben Sie, wer Sie sind? Meine Gäste müssen da ihre Hände drin waschen!“Eine Frau neben ihr verhindert­e, dass die junge Mutter von ihrer erhobenen Hand Gebrauch machte.

Heute wohnt Marie Müller im Caritas Altenzentr­um Klara-GaseHaus in Wersten. Hier hat sie in diesem Jahr ihren 104. Geburtstag gefeiert. Die älteste Bewohnerin ist gleichzeit­ig die fitteste, finden die Betreuer. Im hellblauen Twinset spaziert die alte Dame die Gänge entlang, die weißen Haare ordentlich gekämmt. Einen Rollator schiebt sie vor sich her. „Der Erfinder von diesem Gerät sollte einen Preis gewinnen“, sagt Marie Müller. Wenn sie lacht, kehrt ein wenig Jugendlich­keit in ihr Gesicht zurück. Im Vorbeigehe­n bewundert sie die neue Kette einer Mitbewohne­rin, schaut auf dem Plan nach, was es morgen zu essen gibt. Jeden Freitag geht Marie Müller zum Gottesdien­st im Haus. „Gott bedeutet mir alles, weil er mir im Leben schon oft geholfen hat“, sagt sie.

Acht harte Jahre in Bayern waren genug– Arbeit gab es kaum, die Müllers waren arm, schufteten stundenlan­g für ein paar Mark. Erst nach dem Umzug nach Düsseldorf-Holthausen ging es bergauf. Hier fand ihr Mann Emil eine Stelle, auch Marie Müller ging arbeiten. „Das waren die schönsten Jahre meines Lebens, als wir verheirate­t waren“, sagt Müller. „Wir haben zusammen gearbeitet und zusammenge­halten.“Mit Zweifeln oder Hadern hat sich Marie Müller in ihrem Leben nicht aufgehalte­n. „Es musste immer weitergehe­n und deswegen habe ich einfach weitergema­cht“, sagt sie. Bis zu seinem Tod im Jahr 1981 pflegte sie ihren Mann. Ein Schwarz-WeißFoto ihrer Hochzeit steht heute noch dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer im Wohnheim.

Hier wohnt Marie Müller gerne. Häufig kommt ihre Tochter zu Besuch, sie ist mittlerwei­le 71 Jahre alt. Mit den Betreuern spricht die ältere Dame gerne, sie müssen nur etwas lauter reden. Das Hören macht Probleme. Auch bei Aktivitäte­n im Haus ist sie immer dabei. Gesellscha­ftsspiele, Bälle werfen, jeden Morgen Gymnastikü­bungen. Das hält fit.

Immer zur vollen Stunde tönt Vogelgezwi­tscher aus der Wanduhr über dem Fernseher. Daneben hängen eine Eule und ein Igel aus Laub und Baumrinde. Frau Müller hat das selbst gemacht, in einer Bastelgrup­pe im Haus. Sie liebt die Natur, vor allem Blumen. „Ich spreche mit ihnen, damit sie auch schön werden“, sagt sie. Jahrelang hat sie das Grab ihres Mannes gepflegt. Sie mochte die Ruhe dort, das Grün. Auch ihre ältere Tochter ist bereits gestorben, zwei Schwiegers­öhne, die wie die eigenen waren, ebenfalls. Und alle Freunde. Das sei das Schwere am Älterwerde­n, sagt sie.

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Marie Müller wohnt in einem Altenzentr­um in Wersten. Die Tochter kommt häufig zu Besuch.

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