Die Verwandlung einer Jugendstil-Perle
In einem Bilker Haus bekam eine gotische Kirchenkanzel eine Zukunft – und der Kamin ist ein Puzzle aus verschiedenen Epochen.
Als sie ihr Haus zum ersten Mal sahen, hatten beide denselben Gedanken: „Das ist das hässlichste Gebäude auf der ganzen Straße.“Die Fassade hatte Jahrzehnte keine frische Farbe gesehen, wirkte schmutzig, leicht verwahrlost. „Und innen war es auch nicht besser.“Zum Kauf entschieden sie sich trotzdem, die Lage in der Nähe des Bilker Bahnhofs gefiel ihnen. Der Preis auch. Außerdem ließ sich mit professioneller Vorstellungskraft erahnen, was sich aus dem Haus machen ließe, fanden der Architekt Reinhard Grigoleit und seine Frau Cordula. Heute ist ihr Haus eine Jugendstilperle, die es mit ihrer Nachbarschaft locker aufnehmen kann.
Dieser Tag der Entscheidung liegt exakt 30 Jahre zurück. „Wir haben damals lange überlegt, ob wir nur eine kleine oder eine richtige Sanierung stemmen wollen“, erinnert sich Reinhard Grigoleit. Er hat sich für die große Lösung entschieden, ließ die prächtige Stuckfassade sanieren und zartgelb streichen, dahinter aber blieben nur die tragen- einer kuscheligen Sitzecke eine fein geschnitzte Rückenansicht. Ist eben alles eine Frage der Fantasie.
Die war auch notwendig, damit aus den relativ kleinen Wohnungen des Hauses ein großzügiges Domizil über drei Etagen wurde. Genau dort, wo das Paar gerade in seinem Wohnzimmer auf hellbraunen Ledersofas sitzt, war früher ein kleiner Garten, von dem nur ein schmaler Streifen blieb, den der Hausherr in eine asiatische Miniatur-Landschaft mit Teich und Wandrelief verwandelte. Die Restfläche wurde für einen Anbau genutzt, der durch ei- nen zehn Meter hohen, gläsernen Wintergarten-Turm Licht bekommt. Zumindest theoretisch. Denn seit vielen Jahren wächst eine Palme in diesem Turm, begnügt sich mit einem 1,50 Meter tiefen Erdreich, wuchert bis zum Dach und presst ihre Wedel an die gläsernen Wände. Heiligabend traf Tradition auf Exotik, „da wurde die Palme mit Weihnachtskugeln geschmückt“, sagt Cordula Grigoleit.
Eine Etage tiefer im Souterrain lässt sich etwas bestaunen, das heute unter Artenschutz gestellt werden müsste: eine Kellerbar. Früher wur- de dort oft und gern gefeiert – heute ist die holzvertäfelte Bar der Vorraum zum Schlafzimmer des Paares. Reinhard Grigoleit hat an einem exakt berechneten Punkt ein Glasfenster in die Decke zum Wohnzimmer eingelassen, „durch das scheint die Sonne und illuminiert den Raum“. In der Etage über den Wohnräumen hat die erwachsene Tochter des Paares eine eigene Wohnung, durch eine Wendeltreppe vom Bereich der Eltern getrennt – die Dachterrasse davor benutzt die Familie als Treffpunkt an Sommerabenden.
„Die Schönheit einer Wohnung liegt im richtigen Mix“, sagt Reinhard Grigoleit. Und meint damit die Mischung verschiedener Epochen und Materialien. So leuchtet über den alten Fundstücken moderne Kunst in klaren, kräftigen Farben – allesamt vom Hausherrn gemalt. Auch den Kamin neben den modernen Sofas hat er selbstgebaut: Die Feuerstelle stammt aus einem Schloss, der Spiegel darüber vom Flohmarkt, alte Holzelement fügte er zu einer Umrandung – ein Puzzle aus Jahrhunderten. Und ein Prachtstück allemal.