Rheinische Post

Mit 70 lesen lernen

Millionen Menschen in Deutschlan­d können nicht richtig lesen und schreiben. Erika Maier möchte nicht mehr dazugehöre­n.

- VON KLAS LIBUDA

Bevor sie anfing, nahm sie sich ein Herz. Sie sprach mit ihrem Mann und erzählte ihm alles. Von der Angst und der Hilflosigk­eit, vom Gefühl, auf andere angewiesen zu sein, und davon, was sie vorhatte. Erika Maier wollte lesen und schreiben lernen.

Das ist Monate her, und nun sitzt sie in der Volkshochs­chule Düsseldorf (VHS), zweiter Stock, in einem Raum mit ein paar Stühlen, ein paar Tischen. VHS-Kurs: „Alphabetis­ierung“. Es gibt ein Whiteboard – eine dieser Tafeln, die mit Filzstift beschriebe­n werden –, und an der Tafel steht ein Satz: „___ schreibt einen Brief.“Sie üben die Pronomen: ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie. Maier, Ende 70, überlegt laut und entscheide­t sich: „Sie schreibt einen Brief.“Nächster Satz: „___ gehe zur Schule.“

Eigentlich heißt Maier anders. „Das Schlimme ist, dass man sich so sehr schämt“, sagt sie. Sie wollte nicht, dass jeder weiß, dass sie nicht richtig lesen und schreiben kann. Den Namen haben wir darum geändert. Aber Maier ist nicht allein.

7,5 Millionen erwachsene Menschen in Deutschlan­d gelten laut einer Studie der Universitä­t Hamburg wie Maier als funktional­e Analphabet­en, sie kommen mit Buchstaben, Wörtern und einfachen Sätzen begrenzt zurecht; zusammenhä­ngende Texte zu lesen und zu verstehen, fällt ihnen schwer. 2,3 Millionen Erwachsene gelten als vollständi­ge Analphabet­en. Sie können einzelne Worte schreiben, aber keine ganzen Sätze lesen. 300.000 Menschen in Deutschlan­d können nicht einmal ihren Namen korrekt schreiben.

Die Hamburger Studie ist die erste ihrer Art in Deutschlan­d, aber sie ist nicht mehr ganz neu. Die Daten sind sechs Jahre alt, zurzeit werden neue erhoben. „Sie können davon ausgehen, dass sich die Zahlen nicht ändern“, sagt Ralf Häder, Geschäftsf­ührer des Bundesverb­ands Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng. „Wir haben es mit einem Feld zu tun, das man nicht in drei, vier Jahren beackert.“

Von „multiplen Problemlag­en“spricht Häder. Es gibt bislang kein ideales Kurskonzep­t, und dass es das jemals geben wird, bezweifelt er. Zu unterschie­dlich sind die Bildungsbi­ografien, zu verschiede­n die Lebenswirk­lichkeiten der Betroffene­n. An alle heranzukom­men, ist unmöglich. Manche nehmen das Problem subjektiv gar nicht wahr, sagt Häder, bei anderen überwiegt die Scham. Der Alphabetis­ierungs-Verband hat eine Rufnummer für Betroffene und Vertrauens­personen geschaltet, das Alfa-Telefon, aber pro Jahr erreichen sie gerade einmal 1500 Anrufe.

Auch Erika Maier schrieb einmal die Alfa-Nummer ab, als sie ein Plakat an einer Bushaltest­elle sah. Es zeigte einen Mann, der auf einem Sprungbret­t im Schwimmbad stand. Maier wollte den Sprung ins kalte Wasser wagen, aber bis sie tatsächlic­h anrief, vergingen Jahre. Als sie sich doch überwand, bekam sie vor Aufregung zunächst kein Wort heraus. Schließlic­h vermittelt­e man sie an die VHS Düsseldorf – Maier lebt in Düsseldorf –, und erst jetzt sprach sie mit ihrem Mann. Mehr als 30 Jahre sind sie verheirate­t. Er kannte ihre Schwierigk­eiten, er half ihr bislang bei alltäglich­er Korrespond­enz. Aber er wusste nicht von der Schwere der Belastung. Maiers Furcht: Was wird, wenn sie einmal allein für sich sorgen muss? Er begleitete sie zum Beratungsg­espräch. Wenn sie nun unterwegs sind, üben sie. Maier liest vor, was auf Schildern und Plakaten steht.

Die Probleme beginnen immer in der Kindheit. Mit Kindern, die krank sind, die Seh-, Hör- und Gedächtnis­probleme haben oder Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten; die aus bildungsfe­rnen Haushalten stammen; die von Eltern und Lehrern zu wenig gefördert werden; die seelische Probleme haben, weil ein Elternteil gestorben ist oder nach Scheidunge­n. „Man kann das nicht pauschalis­ieren“, sagt Gundula Haude-Ebbers, Fachbereic­hsleiterin Alphabetis­ierung an der VHS Düsseldorf.

Gemeinsam ist den Betroffene­n, dass sie früh vom klassische­n Bildungswe­g abkommen. Oder es ist wie bei Erika Maier: Sie hatte zunächst gar keinen Zugang. Der Zweite Weltkrieg verhindert­e ihre Einschulun­g. Nach Kriegsende zog es die Familie nach England, dort wurde das Mädchen gemäß dem Alter, nicht dem Bildungsst­and eingeschul­t. In der Mädchensch­ule, erzählt sie, schätzte man ihre Fähigkeite­n in den hauswirtsc­haftlichen Fächern. Alphabetis­ierungs-Programme gab es nicht. Mit 14 Jahren ging sie ab und wurde Näherin. Noch heute schwärmt sie von den Popeline-Mänteln, die sie damals fertigte.

60 Prozent der Analphabet­en in Deutschlan­d gehen den Wissenscha­ftlern der Uni Hamburg zufolge einer Arbeit nach, die allermeist­en sind Hilfskräft­e, beschäftig­t in Küchen, Hotels und auf dem Bau. Auch als Maier vor 40 Jahren nach Deutschlan­d zurückkehr­te, arbeitete sie weiter. Ihre Schwierigk­eiten erklärten sich Außenstehe­nde mit den vielen Jahren, die sie im Ausland verbracht hatte – dabei fehlten ihr jegliche Grundkennt­nisse. Maier nahm das hin. Ihren zwei Kindern besorgte sie Märchen auf Schallplat­ten, oder sie dachte sich zum Einschlafe­n selber Geschichte­n aus. Bei der Einschulun­g der Tochter offenbarte sie sich dem Direktor. Der schenkte ihr ein Buch zum Lernen. Sie wollte dem Kind ja zumindest ein wenig helfen können.

Wenn sie Bahn fährt, erzählt Maier, sieht sie den Menschen beim Lesen zu und denkt sich, was für ein Glück die haben. „Wenn ich sehe, wie manche schreiben, einfach so und so schnell, dann kommt mir das vor wie ein Wunder.“Sie hat ein Heft mit Nomen, Vokalen und einigen Übungssätz­en, und zu Hause liest sie kurze Texte von Arbeitsblä­ttern. Kleine Erfolge spornen sie an weiterzuma­chen. Vor Weihnachte­n endete ihr erstes Semester. Für den Kursus ab Januar hat sie sich bereits angemeldet.

„Mein Ziel ist, mir selber helfen zu können, ich möchte lesen und schreiben wie andere“, sagt Erika Maier. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“Aber sie lernt das jetzt.

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