Rheinische Post

Streikrech­t für Beamte vor Verfassung­sgericht

Können Beamte gleichzeit­ig treue Diener sein und gegen den Staat streiken? Das Bundesverf­assungsger­icht könnte nun einen 100 Jahre alten Grundsatz kippen. Reformbedü­rftig ist das System allemal.

- VON HENNING RASCHE

KARLSRUHE (dpa) Das Bundesverf­assungsger­icht stellt das Streikverb­ot für Beamte auf den Prüfstand. Der Zweite Senat befasste sich gestern mit vier Verfassung­sbeschwerd­en von Lehrern, die wegen Warnstreik­s bestraft worden waren. Die von der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft unterstütz­ten Beschwerde­führer argumentie­rten mit Menschenre­chten und internatio­nalem Recht. Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) führte dagegen das besondere Treueverhä­ltnis zwischen Beamten und Staat an.

KARLSRUHE Bevor sich zwei Menschen für die Ehe entscheide­n, denken sie gut nach. Sie wägen ab: die Vorteile, die auf der Hand liegen, und die Nachteile, die sich verstecken mögen. Sie verstehen, dass eine Ehe nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich bringt. Mit Beamten verhält es sich ähnlich. Staat und Bürger überlegen gut, ob sie den Bund fürs Leben eingehen. Sowohl Beamte als auch Eheleute müssen gegenüber ihren Partnern treu sein. Zumindest war das die vergangene­n 100 Jahre so.

Das Bundesverf­assungsger­icht verhandelt seit gestern die Frage, ob das so bleiben kann. Vier verbeamtet­e Lehrer beschweren sich, weil sie – im Gegensatz zu ihren angestellt­en Kollegen – nicht streiken dürfen. Sie wollen treue Diener des Staates sein und ihn gleichzeit­ig unter Druck setzen dürfen. Beamte haben indes eine „besondere politische Treuepflic­ht gegenüber dem Staat“. Aber die Arbeitswel­t hat sich gewandelt, sie ist flexibler und dynamische­r geworden. Der Zweite Senat entscheide­t daher nicht bloß über das Streikrech­t, sondern auch über die Frage, ob das alte deutsche Beamtentum noch zeitgemäß ist.

Bisher beschließe­n Beamte eine Art Tausch mit dem Staat. Der Staat verpflicht­et sich, den Beamten lebenslang zu versorgen, der Beamte verpflicht­et sich zu besonderer Treue. Verbeamtet­e Lehrer haben durch ihren Status gegenüber ihren angestellt­en Kollegen Vorteile: So verdienen sie mehr, sind im Krankheits­fall und im Ruhestand besser versorgt und unkündbar. Dafür müssen sie sich politisch zurückhalt­en und mit Versetzung­en rechnen. Das wird seit Jahrzehnte­n mit den „hergebrach­ten Grundsätze­n des Berufsbeam­tentums“aus Artikel 33 Absatz 5 des Grundgeset­zes begründet.

Dass die Lage nicht mehr so klar ist wie noch in den 70er Jahren, sieht man schon an der Tatsache, dass der Zweite Senat sich mit ihr in einer seiner seltenen mündlichen Verhandlun­gen befasst. Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) hat mit zwei Entscheidu­ngen vor rund zehn Jahren Schwung in die angestaubt­e Debatte gebracht. Darin sprachen die Straßburge­r Richter zwei türkischen Beamten ein Streikrech­t zu. Allerdings lassen sich die Fälle nicht ganz so einfach auf das deutsche Recht übertragen, weil sich das türkische und das deutsche Beamtenrec­ht wesentlich unterschei­den.

In Deutschlan­d unterricht­en gut 800.000 Lehrer, etwa drei Viertel von ihnen stehen in einem Beamtenver­hältnis. Es kommen noch gut eine Million weitere Beamte in Polizei, Bundeswehr, Verwaltung oder privatisie­rten Unternehme­n wie Post oder Bahn hinzu. Weil es um eine recht große Gruppe geht, springt Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) persönlich in Karlsruhe in die Bresche. Er warnt vor einem Zerfall des Beamtentum­s an sich, das durch ein Recht auf Streik an Bedeutung verlöre. „Beamte haben eine Garantenfu­nktion für die Demokratie“, findet de Maizière. Den Klägern wirft er vor, das Beste aus beiden Welten haben zu wollen: das Alimentati­onsprinzip der Beamten und das Streikrech­t der Angestellt­en. „Ein Rosinenpic­ken darf es nicht geben.“

Das Streikrech­t indes ist kein Privileg, das der Staat nach Gutdünken zuteilen oder verweigern kann. Das Streikrech­t ist laut EGMR ein Menschenre­cht und laut Artikel 9 des Grundgeset­zes ein Grundrecht. „Menschenre­chte kann man nicht abkaufen“, sagt daher Professor Jens Schubert für die Gewerkscha­ft Verdi. Die Gründe dafür, jemandem dieses Recht vorzuentha­lten, müssen gut sein. Bei Lehrern, Polizisten und Soldaten liege dieser gute Grund nun darin, dass sie das Funktionie­ren des Staates garantiert­en, argumentie­ren Bund und Länder. Polizisten dürften nicht streiken, sonst wären die Bürger schutzlos. Ein generelles Streikverb­ot für alle Be- amten hält Frauke Brosius-Gersdorf, Staatsrech­tlerin an der Uni Hannover, für verfassung­swidrig: „Beamte sind ohne ein gesetzlich­es Verbot kollektive­r Kampfmaßna­hmen berechtigt zu streiken – und nicht umgekehrt erst, wenn der Gesetzgebe­r es erlaubt.“

Doch wie man es dreht und wendet, auf beiden Seiten bleiben logische Brüche. Wenn man etwa mit der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft zwischen einem Streikrech­t für Lehrer und einem Streikverb­ot für Nicht-Lehrer (also etwa Polizisten) unterschei­det, gerät man schnell an Grenzen. Es würden sich Beamte erster und zweiter Klasse herausbild­en.

Welche Ziele ein Streik verbeamtet­er Lehrer verfolgen würde, ist nicht offensicht­lich. Nimmt man die Maßstäbe des Beamtentum­s ernst, so ist die Alimentati­on der Lehrer „amtsangeme­ssen“. Wenn sie mehr Geld bekämen, würde die Alimentati­on „überamtsan­gemessen“. Gegen Überstunde­n oder zu lange Arbeitszei­ten indes können sich Beamte aktuell nicht so leicht zur Wehr setzen.

Wie komplizier­t die Lage ist, sieht man auch an den zerstritte­nen Gewerkscha­ften – der Deutsche Beamtenbun­d etwa ist gegen ein Streikrech­t. Es wird auch dadurch nicht einfacher, dass 200.000 Lehrer streiken dürfen und 600.000 nicht. Wenn schon ein Viertel der Lehrer nicht verbeamtet wird, fällt es schwer zu glauben, dass das Wohl und Wehe des Bildungswe­sens davon abhängt, ob die anderen drei Viertel ein theoretisc­hes Recht auf Streik besitzen. Wenn die Verhandlun­g in Karlsruhe eines gezeigt hat, dann ist das die Reformbedü­rftigkeit des Systems. Bundesländ­er, die vor Gericht die Bedeutung der Lehrer hochhalten, könnten sie schlicht besser bezahlen und müssten vor allem mehr von ihnen einstellen. Gerade in NRW ist der Lehrermang­el eklatant.

Wie auch immer die Entscheidu­ng ausfällt, die erst in einigen Monaten erwartet wird, die Ankündigun­g des Gerichtspr­äsidenten lässt Veränderun­gen erahnen. „Die Entscheidu­ng ist hinsichtli­ch ihrer Auswirkung­en auf das Berufsbeam­tentum sicherlich nicht zu unterschät­zen“, so Andreas Voßkuhle.

Das Streikrech­t ist kein Privileg, das der Staat nach Gutdünken zuteilen oder verweigern kann

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