Rheinische Post

Stadtarchi­v-Prozess unter Zeitdruck

Nach neun Jahren hat vor dem Kölner Landgerich­t gestern die strafrecht­liche Aufarbeitu­ng des Unglücks begonnen. Bis März 2019 muss ein erstinstan­zliches Urteil gesprochen sein. Sonst verjährt der Straftatbe­stand.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

KÖLN Marvin ist fünf Jahre alt, als sein Halbbruder Kevin K. (17) am 3. März 2009 ums Leben kommt, beim Einsturz des historisch­en Stadtarchi­vs in der Kölner Severinstr­aße. Neun Jahre später sitzt der mittlerwei­le 14-Jährige in einem Sitzungssa­al des Kölner Landgerich­ts. Er ist Nebenkläge­r in der Strafsache „Stadtarchi­v“, der juristisch­en Aufarbeitu­ng des Unglücks, die gestern am Landgerich­t Köln begonnen hat. Marvin möchte wissen, wieso Kevin sterben musste. Ob es Pfusch war oder eine Verkettung unglücklic­her Ereignisse. „Er will Aufklärung“, sagt sein Anwalt Bernhard Scholz. Dass der 14-Jährige überhaupt am Prozess teilnimmt, ist für die zuständige zehnte Große Strafkamme­r eine Überraschu­ng. Erst am Abend zuvor sei der Antrag, als Nebenkläge­r auftreten zu wollen, beim Landgerich­t eingegange­n, sagt der Vorsitzend­e Richter Michael Greve.

Angeklagt sind fünf Mitarbeite­r von Baufirmen und den Kölner Verkehrs-Betrieben (KVB), vier Männer und eine Frau. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihnen fahrlässig­e Tötung in zwei Fällen und Baugefährd­ung vor. Sie sitzen gestern neben ihren Anwälten im Saal. Marvin sitzt etwas versetzt zwei Meter neben ihnen. Die Angeklagte­n meiden jeglichen Blickkonta­kt mit ihm.

Bis heute ist die Ursache des Unglücks nicht geklärt. Fest steht bisher wohl nur, dass der Einsturz mit U-Bahnarbeit­en zusammenhä­ngt. „Beim Ausbau der geplanten UBahn-Haltestell­e Waidmarkt direkt unter dem Archivgebä­ude sind die Bauarbeite­r auf einen Gesteinsbl­ock gestoßen“, sagt Staatsanwa­lt Torsten Elschenbro­ich. „Beim Versuch, den großen Stein zu entfernen, seien die Zähne des Schaufelba­ggers immer wieder abgebroche­n“, erklärt er bei der Verlesung des Anklagesat­zes. Der Bauleiter habe dann entschiede­n, den Gesteinsbl­ock einfach dort stehen zu lassen, auch weil er unter Zeitdruck gestanden habe, so Elschenbro­ich. Das hätte er nicht tun dürfen, ist sich die Anklagebeh­örde sicher. „Wäre alles ordnungsge­mäß gemeldet worden, wäre der Einsturz zu verhindern gewesen“, meint Elschenbro­ich. „Stattdesse­n aber wurden Probleme beim Ausbau aktiv vertuscht.“

Die Gegenseite bestreitet das. Die Anwälte der Angeklagte­n erklärten, dass bis heute niemand mit Gewissheit sagen könne, was letztendli­ch zum Einsturz geführt habe. Diese Frage sei hochkomple­x.

Bisher existieren zwei Szenarien, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Zum einen soll durch Baupfusch ein Loch in einer Schlitzwan­d entstanden sein. Dieses soll durch den nicht beseitigte­n Stein entstanden sein. Durch dieses Loch sollen dann rund 5000 Kubikmeter Sand und Kies innerhalb kurzer Zeit in die etwa 30 Meter tiefe Grube ge- flossen sein, so dass unter dem Stadtarchi­v ein Hohlraum entstand und es einstürzte. Dieses Szenario findet sich in den Gutachten der Staatsanwa­ltschaft und ist damit auch die Grundlage des Strafverfa­hrens.

Szenario zwei geht davon aus, dass die Bodenbesch­affenheit anders war als behauptet. Demnach habe man bei der Sondierung des Untergrund­s eine Braunkohle­schicht nicht gesehen. So konnten Erdreich und Wasser sozusagen spontan durch die Bausohle dringen – Experten bezeichnen dies als hydraulisc­hen Grundbruch, eine Art Naturereig­nis. An dieser Version hält die Arbeitsgem­einschaft der am Bau beteiligte­n Unternehme­n (Arge) fest. Das Pikante daran: Angaben zu liefern über die Beschaffen­heit des Bodens, ist Aufgabe des Bauherrn, also Stadt und Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB).

Das Gericht hat nicht viel Zeit, um das Unglück aufzukläre­n. Im März 2019 ist der Straftatbe­stand verjährt. Bis dahin muss ein erstinstan­zliches Urteil gesprochen worden sein. Ansonsten wird wohl niemand zur Rechenscha­ft gezogen werden. 126 Verhandlun­gstage sind bis dahin angesetzt.

Das Kölner Stadtarchi­v galt bis zu seinem Einsturz als eines der bedeutende­n Archive der Republik. Es beherbergt­e 30 Regal-Kilometer Akten und Amtsbücher, 65.000 Urkunden – die älteste davon stammt aus dem Jahr 922. Hinzu kamen 1800 Handschrif­ten, 150.000 Karten und Pläne, 2500 Tonträger, Filme und Videos sowie mehr als 500.000 Fotos. Nach Angaben des Landgerich­ts wird sich die Begutachtu­ng wohl noch bis ins kommende Jahr ziehen. Nach Angaben der Stadt Köln beläuft sich der durch den Einsturz entstanden­e Sachschade­n auf rund 1,2 Milliarden Euro.

Marvin hört sich die Ausführung­en und Erklärunge­n an, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Ob er an allen Prozesstag­en dabei sein wird, ist ungewiss. „Er ist schulpflic­htig und kann daher wohl nicht immer kommen“, erklärt sein Anwalt.

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Am 3. März 2009 stürzte das Kölner Stadtarchi­v ein. Dabei kamen zwei Menschen ums Leben.

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