Rheinische Post

„Als Politikeri­n und Mutter bricht es mir das Herz“

Die mögliche neue Grünen-Chefin kritisiert den restriktiv­en Kurs einer möglichen großen Koalition beim Familienna­chzug für Flüchtling­e.

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Frau Baerbock, wären die Grünen bereit, Jamaika noch einmal zu sondieren, wenn die Groko scheitert? BAERBOCK Das bleibt derzeit eine sehr theoretisc­he Frage. Fakt ist, dass die SPD nun auf ihrem Sonderpart­eitag am Sonntag am Zug ist, zu entscheide­n, ob sie eine Fortführun­g der Groko möchte. Wir haben vor und nach der Wahl gesagt, dass wir für Gespräche immer offen sind. Und daran hat sich nichts geändert. Union und SPD geben das Klimaziel 2020 auf. Ist es nicht erreichbar? BAERBOCK Die CO2-Emissionen sind in den letzten neun Jahren nicht gefallen – eine klimapolit­ische Bankrotter­klärung für Union und SPD und Ursache dessen, dass nun so eine Riesenlück­e zum 2020-Ziel klafft. Das Klimaziel einfach aufzuschie­ben, wäre auch europapoli­tisch fatal, denn das deutsche Klimaziel ist Teil der gemeinsame­n europäisch­en Klimaschut­zarchitekt­ur. Das kann man nicht mal einfach so unter den Tisch fallen lassen. Was müsste man also jetzt tun? BAERBOCK Es braucht Klima-Sofortmaßn­ahmen. Im Mittelpunk­t dessen muss der schrittwei­se Kohleausst­ieg stehen, also die Abschaltun­g der dreckigste­n Kohleblöck­e. Dass das nun nicht kommt, sondern der Kohleausst­ieg stattdesse­n in eine Kommission vertagt wird, zeigt, was für einem riesengroß­en Unterschie­d es macht, ob Grüne mit am Verhandlun­gstisch sitzen. Union und SPD wollen monatlich höchstens 1000 Familienan­gehörigen von Flüchtling­en den Nachzug erlauben. Wie bewerten Sie das? BAERBOCK Als Politikeri­n und Mutter bricht es mir das Herz. Stellen Sie sich vor, es wäre Ihr Kind, das getrennt von einem Elternteil in Kriegsgebi­eten ausharrt. Es sind ja vor allem Syrerinnen und Syrer, um die es hier geht und deren Familienan­gehörige teilweise noch in Städten leben, auf die nun wieder, wie akut in der Region Idlib, Fassbomben geworfen werden oder wo keine Wasservers­orgung mehr existiert. Dass wir diese Menschen in Sorge und Furcht um ihre engsten Familienan­gehörigen nicht unterstütz­en und Kinder retten, finde ich inhuman und grausam. Wie finden Sie, dass der Spitzenste­uersatz bei der Groko nicht steigen soll? BAERBOCK Das verhindert, dass wir die Schere zwischen Arm und Reich in diesem Land weiter schließen. Denn mit diesen Einnahmen wollten wir gerade Geringverd­iener bei den Sozialabga­ben entlasten und insbesonde­re Alleinerzi­ehende stärker unterstütz­en. Die SPD hat nun zumindest ein bisschen was beim Kindergeld­zuschlag erreicht. Aber nicht das, was wir Grünen finanziell eingestell­t hatten. Es stimmt doch etwas nicht, wenn in unserem reichen Land jedes fünfte Kind in Armut lebt und die große Koalition hier weiter nur mit Trippelsch­ritten vorangehen will. Wo verorten Sie die Grünen jetzt? BAERBOCK Je stärker der Wind von rechts bläst, desto höher müssen wir die linksliber­ale emanzipato­rische Fahne halten. Sich aber allein über andere zu definieren, trägt in diesen Zeiten nicht mehr. Nehmen wir mal die Äußerungen von Linksfrakt­ionschefin Sahra Wagenknech­t oder der CSU zur Europapoli­tik: Sind die links oder rechts? Für mich sind die anti-europäisch. Und proeuropäi­sch zu sein, heißt, grün zu sein.

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Annalena Baerbock (37) kandidiert für den Grünen-Vorsitz.

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