Rheinische Post

Lehrstunde in Sachen Moral

Martina Gedeck spielt die Hauptrolle in dem Drama „Wir töten Stella“.

- VON BERNHARD SPRENGEL

(dpa) Der Film „Wir töten Stella“ist kein Krimi. Die Frage, wie Stella stirbt, wird gleich in der zweiten Szene geklärt: Die 19-jährige Studentin, gespielt von Mala Emde, geht aufgewühlt eine Straße entlang. Die Zuschauer sehen einen näher kommenden Lastwagen – plötzlich ein Hupen und ein Knall. Dann liegt Stella im Leichensch­auhaus. Ihre Gastmutter Anna (Martina Gedeck) betrachtet ihr aufgerisse­nes Gesicht, das auf der rechten Seite den Schädel freigibt. Nun geht es um die Schuldfrag­e, ohne dass die Polizei bemüht wird.

Anna, eine Frau mittleren Alters, ist die Hauptfigur im Psychodram­a von Julian Roman Pölsler. Der österreich­ische Regisseur hat nach „Die Wand“nun erneut ein Werk der Schriftste­llerin Marlen Haushofer (1920-1970) verfilmt. Anna sitzt in ihrem Zimmer an einer Schreibmas­chine und hat zwei Tage Zeit, wie sie sagt, um die Geschichte von Stella in einer Art Lebensbeic­hte aufzuschre­iben. So lange wird sie in der Villa am Stadtrand allein sein.

Stella ist die Tochter einer Freundin. Die Mutter schiebt sie in die Familie von Anna ab, doch Stella ist in der Villa am Stadtrand nicht willkommen. Annas Kinder, die siebenjähr­ige Anette und ihr halbwüchsi­ger Bruder Wolfgang, lehnen sie ab. Annas Mann Richard (Matthias Brandt), ein erfolgreic­her Scheidungs­anwalt, beginnt eine Affäre mit ihr – Stella wird schwanger, Richard zwingt sie zur Abtreibung. Die tiefgläubi­ge Stella ist nicht nur körperlich verletzt. Verzweifel­t verlässt sie die Villa im roten Mantel. Ein gelber Lastwagen fährt die Straße entlang.

Nach dem Besuch im Leichensch­auhaus sagt Anna zu ihrem Sohn Wolfgang: „Stella ist tot. Sie hat sich... Sie hatte einen Unfall.“Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an die Krimiserie „Derrick“: Das bürgerlich­e Milieu wirkt artifiziel­l, die Charaktere sind ohne Eigenleben, Emotionen werden nur angedeutet. Zum Weinen schließt sich Stella in der Toilette ein, Anna macht es ihr nach dem Tod des Mädchens nach.

Die Stoßrichtu­ng des hochmorali­schen Dramas ist eindeutig: Anna sinniert viel über ihre Mitschuld, doch ihren Mann bezeichnet sie als Mörder. Anna fürchtet sich vor dem nur „oberflächl­ich gezähmten Raubtier“. Richard hingegen kann nicht lieben, nur herrschen, und Sohn Wolfgang beobachtet seinen Vater und Stella mit versteckte­n Kameras – was seine Mutter nach Stellas Tod auf seinem PC entdeckt. Den hatte sie eingeschal­tet, um den letzten Teil einer Lesung der Schriftste­llerin Christa Wolf zu sehen. Die DDR-Autorin trägt ihr feministis­ch geprägtes Buch „Kassandra“vor, das sowohl Anna als auch Wolfgang fasziniert.

Pölsner legt Wert darauf, Haushofers 1958 erschienen­e Novelle möglichst werkgetreu verfilmt zu haben. Den Off-Text, den die Ich-Erzählerin spricht, habe er unveränder­t aus der Buchvorlag­e übernommen. Mit Christa Wolf setzt er gleichwohl wichtige Akzente. „Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein anderes Ziel geführt“, lässt sich Anna am PC von der Autorin vorlesen.

Beim Aufzeichne­n ihrer Gedanken beobachtet Anna immer wieder einen verletzten Vogel im Garten. Womöglich ist auch er gegen eine unsichtbar­e Glaswand gestoßen, so wie Anna in ihrem goldenen Käfig.

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