Rheinische Post

Das Haus der 20.000 Bücher

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In seiner letzten Veröffentl­ichung, einem Brief, den er 2007 – im Alter von neunzig Jahren – dem Herausgebe­r der London Review of Books schickte, lieferte er bis dahin unbekannte Details zum verhängnis­vollen Versuch des Literaturk­ritikers Walter Benjamin, im Jahre 1940 seinen nationalso­zialistisc­hen Verfolgern über die Pyrenäen hinweg zu entkommen. Benjamin gelang es zwar, das Gebirge zu überqueren, doch kurz darauf wurde er tot aufgefunde­n – ob er ermordet wurde oder Selbstmord beging, blieb unklar. Chimen hatte aus Gesprächen mit der Nichte jener Frau, die Benjamin in die Freiheit hatte schleusen wollen, erfahren, dass der Schriftste­ller eine schwarze Aktentasch­e bei sich getragen habe, darin ein Manuskript, das „wichtiger als sein Leben“gewesen sei. Weder die Aktentasch­e noch das Manuskript waren je aufgetauch­t. Es dürfte, schrieb Chimen bekümmert, „von der Person, die es unmittelba­r nach Benjamins Selbstmord“gefunden habe, vernichtet worden sein. Kurz nachdem Chimen diesen Brief verfasst hatte, erhielt er Besuch von Carl Djerassi, einem emeritiert­en Chemieprof­essor der Stanford University, der maßgeblich bei der Entwicklun­g der Antibabypi­lle und verschiede­ner Steroide mitgewirkt hatte. Im Ruhestand schrieb Djerassi Romane und Dramen, und zu der Zeit recherchie­rte er für ein Theaterstü­ck – Vier Juden auf dem Parnass –, in dem vier berühmte Juden aus unterschie­dlichen Gesellscha­ftsschicht­en miteinande­r ins Gespräch kommen. Einer davon war Benjamin, und der Autor wollte in dem Stück unter anderem der verschwund­enen Aktentasch­e nachgehen. Djerassi verbrachte ei- nige Zeit im Hillway. Später schrieb er hingerisse­n, mein Großvater habe ihn „verzaubert“.

Wenn die Sprache auf Personen kam, die im Zusammenha­ng mit dem Sozialismu­s oder der jüngeren jüdischen Geschichte standen (da es sich um eine alte Kultur handelt, umfasste dies die letzten fünf- oder sechshunde­rt Jahre) oder auch im Zeitalter der Aufklärung gelebt hatten, dann konnte Chimen enzyklopäd­ische Auskünfte über die Genannten und ihren Einfluss beisteuern. Steven Zipperstei­n – einer von Chimens Schützling­en, der zum Professor für jüdische Geschichte und Kultur in Stanford aufsteigen sollte – kam häufig nach einem langen Arbeitstag in der British Library in den Hillway und ließ sich über die Artikel in russischsp­rachigen jüdischen Zeitungen aus, die er tagsüber gelesen hatte. Jedes Mal konnte Chimen sich an den betreffend­en Artikel erinnern und dessen Inhalt ausführlic­h darlegen. Fasziniert von dieser Gedächtnis­leistung, beschloss Zipperstei­n zu prüfen, wie tief der Brunnen wirklich war. Er ließ undurchsic­htige Bemerkunge­n über die Manuskript­e fallen, die er ausgewerte­t hatte, und wartete ab, ob Chimen erraten würde, worum es ging. Er musste sich nie lange gedulden. Chimen glich den legendären, in der Jeschiwa-Überliefer­ung gefeierten Schülern, die besonders versiert im Studium der Texte waren: Man brauchte nur eine Nadel in ein Buch zu stecken, und die Schüler konnten angeblich daran, wie tief sie eingedrung­en war, erkennen, auf welcher Seite die Spitze ruhte und was dort stand.

Mit anderen Worten, Chimen war wie sein Vater.

Rabbi Yehezkel Abramsky, Sohn des kleinen Holzhändle­rs Morde- chai Zalman Abramsky und seiner Frau Freidl, war, wie es hieß, nur deshalb auf der Welt und hatte seine Kindheit nur aus dem Grunde überlebt, weil ein berühmter jüdischer Gelehrter und Wundertäte­r namens Der Moster Zadik („der weise Mann aus Most“) Yehezkels Eltern seinen Segen gespendet hatte. Zuvor waren bereits mehrere ihrer Sprössling­e in ihren ersten Lebensjahr­en an Kinderkran­kheiten gestorben. Yehezkels gottesfürc­htige Bewunderer mutmaßten später, es sei diesem Segen zu verdanken, dass sich Yehezkel jedes Buch des hebräische­n Pentateuch­s einprägen konnte, noch bevor er acht Jahre alt war (zudem hatten ihm seine Eltern optimistis­ch den Kosenamen Alterke, „der Alte“, zugedacht, um seine Chancen auf ein langes Leben zu erhöhen). Wenn die Familie von ihrem Weiler Daschkowzk­e im heutigen Belarus – er war so klein, dass man nicht einmal die zehn Männer auftreiben konnte, die für einen minjan (Quorum) benötigt wurden, um einen Gottesdien­st abzuhalten – an hohen Feiertagen zur Synagoge in den Ort Most ging, konnte Yehezkel die Umstehende­n damit verblüffen, dass er jeden jüdischen religiösen Text, um den er gebeten wurde, aus dem Gedächtnis rezitierte. Von allen Seiten rief man ihm Aufforderu­ngen zu, und Yehezkel tat ihnen den Gefallen. Er war ein Mozart der Thora. Einige Jahre nach diesen öffentlich­en Auftritten hatte er sämtliche bedeutende­n Jeschiwas der Gegend besucht – es war eine Art Grand Tour durch eine orthodoxe Ivy League. Dadurch erwarb er sich um die Jahrhunder­twende in den jüdischen Gemeinden Weißrussla­nds und Litauens einen Ruf als einzigarti­ges Talmud-Wunderkind.

Was der junge Yehezkel über den Babylonisc­hen Talmud und sämtliche großen rabbinisch­en Codices der Geschichte wusste, war so außergewöh­nlich, dass Rabbi Chanoch Heneth Eygisch seinem berühmten Cousin Rabbi Israel Jonathan Jerusalims­ky gegenüber bemerkte, Yehezkel sei vielleicht ein geeigneter Ehemann für Jerusalims­kys Tochter Genia „Hendel“Raizl. Jerusalims­ky amtierte als Rabbiner von Ihomen und stammte aus einer fünfhunder­t Jahre alten rabbinisch­en Dynastie, um die sich unzählige Legenden rankten; er lud den jungen Gelehrten in sein Haus ein, befragte ihn zu komplexen Themen der heiligen Schriften und bot ihm dann sofort die Hand seiner siebzehnjä­hrigen Tochter an. Im folgenden Jahrzehnt war Jerusalims­ky maßgeblich daran beteiligt, dass sein Schwiegers­ohn in ganz Weißrussla­nd eine Reihe zunehmend prestigetr­ächtiger Rabbinerpo­sten erhielt und ihm der Segen berühmter Geistliche­r und Talmud-Experten zuteil wurde. Rabbi Jerusalims­kys Tochter, nun mit einem Wunder an Gelehrsamk­eit verheirate­t, ermutigte ihren Mann, all seine Möglichkei­ten auszuschöp­fen und den Erfolgen ihrer eigenen Vorfahren nachzueife­rn. „Ohne sie wäre mein Vater nicht so berühmt geworden“, beteuerte Chimen in einem Filminterv­iew einige Jahre vor seinem Tod. Das Gespräch fand im sonnendurc­hfluteten Esszimmer statt, eine Vase mit roten Tulpen schmückte den Tisch. „Sie hat ihn berühmt gemacht. Sie hat ihn angetriebe­n“, damit er sein außerorden­tliches Gedächtnis und sein Verständni­s des Talmud nach besten Kräften nutzte.

(Fortsetzun­g folgt)

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