Rheinische Post

Wovon Schriftste­ller träumten

Manfred Windfuhr hat Zukunftsvi­sionen des 20. Jahrhunder­ts analysiert.

- VON CLAUS CLEMENS

Beinahe zehn Jahre lang hat Manfred Windfuhr an seinem wohl letzten Opus magnum gearbeitet. Das Resultat ist ein prachtvoll­es Buch mit 900 Seiten. „Zukunftsvi­sionen“lautet der Titel. Windfuhr, 1930 geboren und lange Jahre Professor für Neuere Germanisti­k in Düsseldorf, stellte es jetzt im Heinrich-HeineInsti­tut vor. Ein passender Ort, denn der Autor ist auch Herausgebe­r der großen Düsseldorf­er Heine-Ausgabe. Thema des neuen Werks sind Zukunftsvi­sionen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunder­ts. Nicht nur berühmte Romane von Hermann Hesse, Ernst Jünger, Friedrich Dürrenmatt, Arno Schmidt, Christa Wolf und Günter Grass werden analysiert. Vielmehr erfasst Windfuhrs literatur-analytisch­er Blick ein Panorama fasziniere­nder Möglichkei­tswelten in der zeitgenöss­ischen deutschen Literatur in Bereichen von Staat bis Kultur.

„In meinem Alter will man wissen, wie es in der Gesellscha­ft wei- tergehen wird“, begründete der rüstige Emeritus seine zeitrauben­de Forschungs­arbeit. Karin Füllner vom Heine-Institut steuerte das entspreche­nde Heine-Zitat bei: „Uns gehört die Zukunft“, sagt der Tanzbär in „Atta Troll. Ein Sommermärc­hen“, als dort die Tiere beschließe­n, sich von dem Joch der Menschen zu befreien. „Sie erkennen bestimmt den Zusammenha­ng mit Orwell und damit dem Thema des Abends“, wandte sich Füllner an die Zuhörer, „und Sie wissen, dass die Sache bei Heine und Orwell nicht gut ausgeht.“Manfred Windfuhr unterschei­det vier Spielarten des prognostis­chen Romans. In ihrer Zusammensc­hau ergäbe sich ein „Buch über die dargestell­te Unwirklich­keit“, sagte er in Anspielung auf Erich Auerbachs „Mimesis. Dargestell­te Wirklichke­it in der abendländi­schen Literatur“.

Den Beginn der vier Großkapite­l macht die christlich­e Utopie. Nach einer Einführung in biblisch- eschatolog­ische Grundannah­men folgen die Utopia-Variatione­n der drei Schriftste­ller Werner Bergengrue­n, Carl Amery und Stefan Andres. Als zweite Spielart erscheinen die „Grünen Alternativ­en“, was nur indirekt politisch gemeint ist. Hier findet man Autoren wie Christa Wolf, die die DDR-Gegenwart an ihren utopischen Zielvorste­llungen misst. Aber auch Automaten- und Roboterkri­tik wie Franz Kafkas „Strafkolon­ie“. Für die Rückkehr zur Natur stehen unter anderem die Slowenisch­en Ideallands­chaften Peter Handkes. Als dritte Variante erfährt man viel über „Sozialisti­sche Modelle“, und den Abschluss bildet die dystopisch­e Katastroph­enliteratu­r. Windfuhr liefert eingehende Analysen von mehr als 80 Romanen und Erzählunge­n. Sein Buch will trotz des Umfangs lesbar sein. „Mein Arzt meinte nach 90 Seiten, dass sich das Ganze gut liest“, berichtete der Autor.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany