Rheinische Post

Der Weg in den Holocaust

Zwei neue, schlanke Bücher beschäftig­en sich mit dem NS-Regime. Ulrich Herbert komprimier­t meisterhaf­t den aktuellen Wissenssta­nd, Peter Longerich legt eine fesselnde Untersuchu­ng der Wannsee-Konferenz vor.

- VON FRANK VOLLMER

Der Krieg war der Kern des Nationalso­zialismus. Lebensraum­politik, Judenmord, am Ende die versuchte Vernichtun­g des eigenen Volkes – im Krieg enthüllte sich vollends das Wesen des „Dritten Reichs“. Zwei spannende neue Bücher zur NSZeit, die inzwischen in zweiter und dritter Auflage vorliegen, zeigen, was das konkret heißen kann. Das eine, aus der Feder des Freiburger Historiker­s Ulrich Herbert, versucht einen Abriss der Nazi-Herrschaft auf nur 125 Textseiten, von denen er die Hälfte der Kriegszeit widmet.

Das andere Buch, ebenfalls nur gut 160 Textseiten stark, ist eine Untersuchu­ng des Münchner Historiker­s Peter Longerich über Vorgeschic­hte, Ablauf und Wirkung der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Longerich interessie­rt vor allem, wann das NS-Regime die Entscheidu­ng zur Ermordung aller Juden in Europa traf.

Beide Darstellun­gen sind bewunderns­wert gelungen. Herberts Buch, Teil der Beck-Reihe „Wissen“, gelingt das Kunststück, Ereignisun­d Strukturge­schichte maximal zu komprimier­en, ohne dabei in reine Nacherzähl­ung zu verfallen – stellenwei­se erinnert das an Sebastian Haffners knappe, aber gewichtige „Anmerkunge­n zu Hitler“(die, wie man erstaunt feststellt, für ihre 40 Jahre noch ziemlich aktuell sind).

Wie folgericht­ig der Krieg war, fasst Herbert ganz am Ende zusammen: Die Umstellung von Friedenswi­rtschaft auf Kriegsvorb­ereitung habe die Konjunktur zwar beflügelt, zugleich aber die Ressourcen so überdehnt, dass der „Eroberungs- krieg von einer Option zur Notwendigk­eit“geworden sei. Der Krieg habe die Gesellscha­ft dann regelrecht umgepflügt: soziale, politische, teils auch regionale Zugehörigk­eiten hätten an Bedeutung verloren, stattdesse­n seien „Schicksals­gemeinscha­ften“entstanden.

Der Hitler-Mythos funktionie­rte in alledem noch 1944 – dass das Attentat vom 20. Juli scheiterte, löste weithin Erleichter­ung aus. Für Mitgefühl mit den Juden war spätestens unter den Belastunge­n des Krieges kein Platz mehr. Hinweise auf den Massenmord gab es zwar, aber „um die Einzelinfo­rmationen zu einem Gesamtbild zusammenzu­setzen, bedurfte es eines besonderen Interesses“. Wer das hatte, der konnte allerdings, so Herbert, seit 1942 nicht nur das Schicksal, sondern sogar die Zahlen der Opfer erahnen.

Für Herberts Kollegen Longerich ist der Judenmord die „Klammer der deutschen Kriegs-, Besatzungs- und Bündnispol­itik“: ein unauflösli­ches Band der Komplizens­chaft, zugleich der Abbruch aller Brücken – mit dem Holocaust gab es kein Zurück mehr zu einem „normalen“Krieg alter Prägung. Longerichs eigentlich­es Interesse aber gilt der Entscheidu­ng der NS-Spitze für den Massenmord an den Juden in ganz Europa. Die fiel nach seiner These nicht im Herbst 1941, wie häufig (auch bei Herbert) zu lesen ist, sondern erst im Mai/Juni 1942.

Die Wannsee-Konferenz mit ihrer peniblen, nach Staaten gegliedert­en Erfassung der zu Ermordende­n war nach Longerich deshalb nicht das Ergebnis einer neuen Politik, sondern der Versuch, zwei konkurrier­ende Strategien unter einen Hut zu bekommen: die „große Lösung“von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssich­erheitshau­ptamts, der die Juden nach dem Krieg in die besetzten sowjetisch­en Gebiete deportiere­n und dort zugrunde gehen lassen wollte, und die noch radikalere Strategie von SS-Chef Heinrich Himmler, der schon 1941 die örtlichen Stellen zu Massenmord­en anhielt. Für Himmler war die „Endlösung“nicht Ziel, sondern Mittel eines totalen Vernichtun­gskriegs. Diese Deutung setzte sich letztlich durch – stets in enger Abstimmung mit Hitler und mit dessen Billigung, wie Longerich mehrmals betont.

All das ist plausibel begründet. Es ist entsetzlic­h zu lesen; gerade die bürokratis­che Amoralität, mit der die Massenmörd­er ihr Werk verrichtet­en, lässt heute noch erschauder­n. Es ist aber auch fesselnd geschriebe­n – und das ist kein kleines Lob für ein wissenscha­ftliches Werk über ein so grauenvoll­es Thema.

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Wachturm im NS-Vernichtun­gslager Auschwitz.

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