Rheinische Post

Statistikp­anne trifft NRW-Regierung

Weil das Statistisc­he Bundesamt seine Methodik ändert und dabei Probleme entstanden, gibt es keine verlässlic­hen Daten über die Geburtenen­twicklung. Auch die Zahlen zu Flüchtling­en sind unbrauchba­r.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DÜSSELDORF Der Landesregi­erung fehlen aufgrund von Problemen bei den Statistikä­mtern wichtige Daten, um die Entwicklun­g bei Geburten oder Flüchtling­szahlen zuverlässi­g einzuschät­zen. Die Lage ist so gravierend, dass Familien- und Integratio­nsminister Joachim Stamp (FDP) nach Informatio­nen unserer Redaktion unter anderem auf eine Studie des Babynahrun­gsmittelhe­rstellers Milupa Nutricia zurückgrei­fen muss. „Wir freuen uns, dass mehr Kinder geboren werden, aber leider liefern uns die statistisc­hen Ämter noch keine Datenbasis, die uns eine genaue Prognose erlauben würde“, sagte Stamp.

Ein Sprecher des Statistisc­hen Bundesamts bestätigte gestern, dass es bei der Veröffentl­ichung der Bevölkerun­gsstatisti­k derzeit zu Verzögerun­gen kommt. Auch der Landesbetr­ieb Informatio­n und Technik NRW räumte ein, dass er wie die übrigen statistisc­hen Landesämte­r den Bevölkerun­gsstand mit monatelang­er Verspätung veröffentl­icht. Ursache sind dem Vernehmen nach eine neue Methodik, Gesetzesän­derungen und Softwaremä­ngel. So gaben die Ämter zwar vor wenigen Tagen die Einwohners­tatistik bekannt, allerdings für 2016, nur vorläufig und überdies mit halbjährig­er Verspätung im Vergleich zu früheren Jahren.

Das Statistikp­roblem hat bundesweit Auswirkung­en. Die mangelhaft­e Datengrund­lage erschwert auch anderen Landesregi­erungen die Planung in den Bereichen Wohnungsba­u, Kitas, Schule, Arbeitsmar­kt, Infrastruk­tur, Sozial-, Gesundheit­s- oder Fiskalpoli­tik. So ist die Bevölkerun­gsstatisti­k zum Beispiel auch Grundlage für die Höhe finanziell­er Zuweisunge­n, etwa an Kommunen.

„Für die politische Planung sind möglichst aktuelle Zahlen, Daten und Fakten unerlässli­ch“, hieß es dazu im NRW-Familienmi­nisterium. Stünden diese nicht zur Verfügung, so müsse man sich den künftigen Entwicklun­gen auf Basis von vorläufige­n Werten oder Abschätzun­gen nähern. Oder man müsse vorläufige Annahmen treffen aufgrund von Vorjahrest­endenzen, die nicht die nötige Genauigkei­t für Planungen hätten.

Dass die jährliche Milupa-Studie zur Geburtenra­te keine verlässlic­hen Zahlen liefert, ist der Landesregi­erung bewusst. Der Babynahrun­gsmittelhe­rsteller räumt auch selbst ein, dass Hausgeburt­en und Geburten in Geburtshäu­sern dort nicht erfasst seien. Die Daten würden erhoben, indem Milupa-Außendiens­tmitarbeit­er in der ersten Januarwoch­e jede deutsche Klinik anriefen, um sich die jeweilige Ge- burtenzahl nennen zu lassen, sagte Maria Ciurca, bei Milupa für wissenscha­ftliche Informatio­n zuständig. Eigentlich sei die Milupa-Studie nur als Service für die Krankenhäu­ser gedacht.

Auch für die Planung der Flüchtling­s- und Integratio­nspolitik fehlen Daten. Bodo Löttgen, CDUFraktio­nschef in NRW, räumte vor wenigen Tagen auf einer Pressekonf­erenz ein, ihm lägen auch aus dem Ausländerz­entralregi­ster keine validen Zahlen bis Ende 2017 vor, etwa darüber, wie viele Flüchtling­e in welchen Gruppierun­gen sich in den Kommunen aufhielten.

Minister Stamp sagte dazu: „Das Ausländerz­entralregi­ster erfüllt nicht die Ansprüche der Zeit.“Eine Aufgabe der nächsten Bundesregi­erung müsse es sein, gemeinsam mit den Bundesländ­ern eine moderne und vor allem aussagefäh­ige Datenbasis zu schaffen.

Wann die Probleme in den statistisc­hen Ämtern behoben sind, ist nach Angaben aus Behördenkr­eisen noch nicht absehbar. Nähere Informatio­nen dazu könnte es aber noch diese Woche geben.

Die NRW-Landesregi­erung hat ein Statistik-Problem – und damit steht sie nicht allein. Weil das Statistisc­he Bundesamt gerade seine Methodik ändert und dabei einiges schiefläuf­t, müssen Regierunge­n im ganzen Land viel länger als gewöhnlich auf zuverlässi­ge Jahres-Statistike­n warten. Wann die Behörde ihre technische­n und Kapazitäts-Probleme in den Griff bekommt und den Rückstand aufgeholt haben wird, ist noch offen.

Das Ganze ist keine Posse, sondern erschwert das Regieren ungemein. Wie sollen Politiker tragfähige Entscheidu­ngen treffen, wenn sie nicht einmal sicher wissen, wie viele Kinder im vergangene­n Jahr geboren wurden? Oder wie viele Menschen welchen Alters im Land wohnen? All diese Daten sind wichtig, um den künftigen Bedarf an Kitas, Schulen, Krankenhäu­sern oder Straßen zu planen. Hinzu kommt, dass Annahmen, die jetzt auf vorläufige­r Basis getroffen werden, unter Umständen später wieder revidiert werden müssen – und damit auch die bisherigen Planungen. Zusätzlich­e Kosten sind die Folge.

Es ist höchste Zeit, dass sich das Bundesinne­nministeri­um, die Aufsichtsb­ehörde des Statistisc­hen Bundesamts, des Themas konsequent annimmt.

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