Statistikpanne trifft NRW-Regierung
Weil das Statistische Bundesamt seine Methodik ändert und dabei Probleme entstanden, gibt es keine verlässlichen Daten über die Geburtenentwicklung. Auch die Zahlen zu Flüchtlingen sind unbrauchbar.
DÜSSELDORF Der Landesregierung fehlen aufgrund von Problemen bei den Statistikämtern wichtige Daten, um die Entwicklung bei Geburten oder Flüchtlingszahlen zuverlässig einzuschätzen. Die Lage ist so gravierend, dass Familien- und Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) nach Informationen unserer Redaktion unter anderem auf eine Studie des Babynahrungsmittelherstellers Milupa Nutricia zurückgreifen muss. „Wir freuen uns, dass mehr Kinder geboren werden, aber leider liefern uns die statistischen Ämter noch keine Datenbasis, die uns eine genaue Prognose erlauben würde“, sagte Stamp.
Ein Sprecher des Statistischen Bundesamts bestätigte gestern, dass es bei der Veröffentlichung der Bevölkerungsstatistik derzeit zu Verzögerungen kommt. Auch der Landesbetrieb Information und Technik NRW räumte ein, dass er wie die übrigen statistischen Landesämter den Bevölkerungsstand mit monatelanger Verspätung veröffentlicht. Ursache sind dem Vernehmen nach eine neue Methodik, Gesetzesänderungen und Softwaremängel. So gaben die Ämter zwar vor wenigen Tagen die Einwohnerstatistik bekannt, allerdings für 2016, nur vorläufig und überdies mit halbjähriger Verspätung im Vergleich zu früheren Jahren.
Das Statistikproblem hat bundesweit Auswirkungen. Die mangelhafte Datengrundlage erschwert auch anderen Landesregierungen die Planung in den Bereichen Wohnungsbau, Kitas, Schule, Arbeitsmarkt, Infrastruktur, Sozial-, Gesundheits- oder Fiskalpolitik. So ist die Bevölkerungsstatistik zum Beispiel auch Grundlage für die Höhe finanzieller Zuweisungen, etwa an Kommunen.
„Für die politische Planung sind möglichst aktuelle Zahlen, Daten und Fakten unerlässlich“, hieß es dazu im NRW-Familienministerium. Stünden diese nicht zur Verfügung, so müsse man sich den künftigen Entwicklungen auf Basis von vorläufigen Werten oder Abschätzungen nähern. Oder man müsse vorläufige Annahmen treffen aufgrund von Vorjahrestendenzen, die nicht die nötige Genauigkeit für Planungen hätten.
Dass die jährliche Milupa-Studie zur Geburtenrate keine verlässlichen Zahlen liefert, ist der Landesregierung bewusst. Der Babynahrungsmittelhersteller räumt auch selbst ein, dass Hausgeburten und Geburten in Geburtshäusern dort nicht erfasst seien. Die Daten würden erhoben, indem Milupa-Außendienstmitarbeiter in der ersten Januarwoche jede deutsche Klinik anriefen, um sich die jeweilige Ge- burtenzahl nennen zu lassen, sagte Maria Ciurca, bei Milupa für wissenschaftliche Information zuständig. Eigentlich sei die Milupa-Studie nur als Service für die Krankenhäuser gedacht.
Auch für die Planung der Flüchtlings- und Integrationspolitik fehlen Daten. Bodo Löttgen, CDUFraktionschef in NRW, räumte vor wenigen Tagen auf einer Pressekonferenz ein, ihm lägen auch aus dem Ausländerzentralregister keine validen Zahlen bis Ende 2017 vor, etwa darüber, wie viele Flüchtlinge in welchen Gruppierungen sich in den Kommunen aufhielten.
Minister Stamp sagte dazu: „Das Ausländerzentralregister erfüllt nicht die Ansprüche der Zeit.“Eine Aufgabe der nächsten Bundesregierung müsse es sein, gemeinsam mit den Bundesländern eine moderne und vor allem aussagefähige Datenbasis zu schaffen.
Wann die Probleme in den statistischen Ämtern behoben sind, ist nach Angaben aus Behördenkreisen noch nicht absehbar. Nähere Informationen dazu könnte es aber noch diese Woche geben.
Die NRW-Landesregierung hat ein Statistik-Problem – und damit steht sie nicht allein. Weil das Statistische Bundesamt gerade seine Methodik ändert und dabei einiges schiefläuft, müssen Regierungen im ganzen Land viel länger als gewöhnlich auf zuverlässige Jahres-Statistiken warten. Wann die Behörde ihre technischen und Kapazitäts-Probleme in den Griff bekommt und den Rückstand aufgeholt haben wird, ist noch offen.
Das Ganze ist keine Posse, sondern erschwert das Regieren ungemein. Wie sollen Politiker tragfähige Entscheidungen treffen, wenn sie nicht einmal sicher wissen, wie viele Kinder im vergangenen Jahr geboren wurden? Oder wie viele Menschen welchen Alters im Land wohnen? All diese Daten sind wichtig, um den künftigen Bedarf an Kitas, Schulen, Krankenhäusern oder Straßen zu planen. Hinzu kommt, dass Annahmen, die jetzt auf vorläufiger Basis getroffen werden, unter Umständen später wieder revidiert werden müssen – und damit auch die bisherigen Planungen. Zusätzliche Kosten sind die Folge.
Es ist höchste Zeit, dass sich das Bundesinnenministerium, die Aufsichtsbehörde des Statistischen Bundesamts, des Themas konsequent annimmt.
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