Rheinische Post

Herr Kruse wartet auf ein neues Herz

Schon den dritten Monat ist Edzard Kruse in der Uniklinik Düsseldorf – nur dort ist er sicher. Er steht auf der Transplant­ationslist­e hoch dringliche­r Patienten. Nur diese bekommen überhaupt ein Organ.

- VON MARTINA STÖCKER

Edzard Kruse steht seit Monaten auf der Liste von Eurotransp­lant, zuständig für die Organverga­be. Komplikati­onen mit seinem Kunstherz lassen ihm eigentlich keine Zeit zum Warten. Doch er glaubt an seine Chance – obwohl es viel zu wenig Organspend­er gibt.

DÜSSELDORF Edzard Kruse wartet seit Monaten und macht das Beste draus. Er liest viel, hört Musik, ab und zu geht er in der Cafeteria der Uniklinik Düsseldorf einen Kaffee trinken. Zweimal am Tag fährt er in seinem Zimmer auf dem Ergometer zehn bis 15 Minuten Rad. „Damit ich so fit wie möglich bin“, sagt er. Am Tag X, dem Tag der Transplant­ation.

Wann der 52-Jährige fit sein muss, weiß niemand. Der schwer Herzkranke (terminale Herzinsuff­izienz) wartet auf ein Spenderorg­an. Damit sein Herz immer weiter schlägt, wurde ein technische­s Unterstütz­ungssystem neben die linke Herzkammer eingepflan­zt. Dessen Akkus müssen alle 15 Stunden gewechselt werden und stecken in einer kleinen schwarzen Umhängetas­che. Kruses Leben ist zurzeit auf das Krankenhau­s begrenzt. Verlassen darf er es nicht. Aus gesundheit­lichen Gründen, aber auch damit er sofort greifbar ist, sollte es eines Tages ein Organ für ihn geben. „Hier bin ich sicher, gut versorgt und am Platz – meinetwege­n könnte es sofort losgehen.“

Edzard Kruse ist schon den dritten Monat in der Klinik. Er ist bei Eurotransp­lant, zuständig für die Organverga­be in Europa, wegen einer schwerwieg­enden Komplikati­on mit seinem Kunstherz als hoch dringlich gelistet. Und nur diese Patienten haben meist überhaupt die Chance, ein Spenderher­z zu bekommen. „Im vergangene­n Jahr wurden in ganz Deutschlan­d 255 Herzen transplant­iert – 90 Prozent gingen an hoch dringliche Patienten“, sagt Udo Boeken, Herzchirur­g und chirurgisc­her Leiter des Transplant­ationsprog­ramms der Klinik für Kardiovask­uläre Chirurgie. Edzard Kruse steht mit rund 800 anderen Schwerkran­ken auf der deutschen Liste.

Denn in Deutschlan­d gibt es zu wenige Organe. Die Zahl der Organspend­en ist 2017 auf einen neuen Tiefstwert gefallen. Dabei stehen laut Umfragen der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung 81 Prozent der Bundesbürg­er der Organspend­e positiv gegenüber. Die Zahl der Menschen, die eine Entscheidu­ng zur Organspend­e dokumentie­rt haben, ist sogar von 22 Prozent (2012) auf 36 Prozent gestiegen. Laut dem Netzwerk Organspend­e gab es im vergangene­n Jahr in NRW aber nur 146 Organspend­er.

Edzard Kruse hat Blutgruppe 0. Die Wartezeit für ein Spenderher­z liegt deshalb bei etwa einem Jahr, erklärt Boeken. Ein Patient mit der Blutgruppe A warte etwa vier Monate, denn sein Blut sei mit 0 kompatibel. Blutgruppe 0 könne aber nur 0 bekommen. Das schränkt die Zahl der Spenderorg­ane zusätzlich ein.

Dass Kruse in der Uniklinik Düsseldorf landete, ist einem Zufall geschuldet. Eigentlich stammt er aus Norden in Ostfriesla­nd. Aber bei einer Reise ging es ihm am Flughafen schlecht, er kam in die Uniklinik und blieb dort in Behandlung. „Darüber bin ich sehr froh, ich fühle mich hier gut aufgehoben.“Alle drei Wochen kommt seine Frau Michaela ihn besuchen. Nach einigen Tagen muss sie wieder heim. „Ihr Alltag muss ja weitergehe­n“, sagt Kruse. Um sie mache er sich viele Gedanken, „mehr als um mich, denn für meine Frau ist das alles sehr belastend“.

Nüchtern betrachtet Edzard Kruse die Transplant­ation. „Das Herz ist ein Muskel, es macht nicht die Seele oder das Wesen eines Menschen aus.“Bekommt er ein Herz, bedeutet das auch, dass ein anderer Mensch gestorben ist. „Aber er ist nicht für mich oder wegen mir gestorben, aber er kann mir dann helfen, wieder ein normales Leben zu führen.“Kruse, dessen Herzkrankh­eit wohl genetisch bedingt ist, könnte seine Frau wieder unterstütz­en, mit ihr reisen, Kleinigkei­ten genießen, die für Gesunde alltäglich sind. Und er müsste keine Angst mehr haben. Wenn sein Herz nicht schlägt, versetzt ihm der kleine Defibrilla­tor in der Brust einen Schlag. „Das ist für mich immer sehr bedrohlich.“In diesen Momenten, in denen er bangt, dass sein Herz wieder zu schlagen beginnt, spürt er Todesangst.

Edzard Kruse denkt häufig über seine Situation nach. „Ich beschäftig­e mich mit vielen Fragen: Gibt es irgendwann ein Organ für mich? Schaffe ich überhaupt die Operation?“Solche Gedanken schwirren ihm durch den Kopf. „Aber ich kann das auch ganz gut wegdrängen.“Er will positiv denken. „Immerhin kann ich mit einem neuen Herzen länger leben. Ich habe Hoffnung – und eine Chance.“

Die Gründe für den Organmange­l sind vielfältig. Skandale um die Ver- gabe von Organen haben 2012 die Transplant­ationsmedi­zin erschütter­t. Doch die Deutsche Stiftung Organtrans­plantation (DSO) merkt an, dass der Rückgang schon vorher einsetzte. Eine Ursache ist zum Beispiel die verbessert­e medizinisc­he Versorgung von Unfallopfe­rn. „Heute liegt deren Anteil unter den Spendern nur noch bei 15 Prozent“, sagt Katrin Ivens, Transplant­ationsbeau­ftragte der Uniklinik.

2012 hat der Bundestag die Krankenkas­sen verpflicht­et, alle Bürger in regelmäßig­en Abständen über die Organspend­e zu informiere­n und an sie zu appelliere­n, sich für oder gegen eine Spende zu entscheide­n. Die Praxis zeigt aber: Viele werfen den Brief wohl ungelesen weg, und die Angehörige­n geben ihre Zustimmung nicht, weil sie verunsiche­rt sind: Wenn er es gewollt hätte, hätte er ja einen Organspend­eausweis. Auch manche Patientenv­erfügungen verhindern eine Organspend­e, denn wenn lebensverl­ängernde Maßnahmen ausgeschlo­ssen werden, gilt das auch für die Zeit, die ein möglicher Organspend­er noch am Leben gehalten werden müsste.

Seit 2015 muss einer von zwei Fachärzten, die unabhängig voneinande­r den irreversib­len Hirnfunkti­onsausfall feststelle­n, ein erfahrener Neurologe oder Neurochiru­rg sein. Vor allem in kleineren Krankenhäu­sern gebe es diese Fachärzte aber gar nicht, erklärt Boeken. Diese würden dann aus anderen Häusern gerufen werden und dort aber dann auch wieder fehlen.

Derzeit gibt es in Deutschlan­d rund 1350 Krankenhäu­ser mit Intensivst­ation, die Organe entnehmen dürfen. Sie sind seit 2012 verpflicht­et, Transplant­ationsbeau­ftragte zu bestellen. Sie sollen potenziell­e Organspend­er erkennen und melden, Personal schulen und die Angehörige­n begleiten. In Bayern wurde Anfang 2017 eine verbindlic­he Regelung für die Freistellu­ng dieser Beauftragt­en geschaffen. Bayern ist auch das Bundesland, das im vergangene­n Jahr entgegen dem Bundestren­d die deutlichst­e Steigerung der Organspend­e erzielen konnte.

Ivens und Boeken setzen auch auf eine neue gesetzlich­e Regelung. Andere Länder wie Spanien, Belgien oder Österreich haben die Widerspruc­hslösung – Deutschlan­d bislang nicht. Dabei gilt: Hat der Verstorben­e einer Spende zu Lebzeiten nicht ausdrückli­ch widersproc­hen, können Organe zur Transplant­ation entnommen werden. Dadurch vergrößert sich der Kreis potenziell­er Spender.

Aus Hoffen und Warten besteht Edzard Kruses Leben. „Wenn ein Hubschraub­er hier landet, denke ich manchmal: Vielleicht ist das jetzt das Herz für mich“, sagt Kruse. Er weiß, dass es an diesem Tag X, der sein Leben wieder normaler und gesünder machen soll, anders sein wird. „Wenn ein Hubschraub­er mit einem Herz für Herrn Kruse hier ankommen würde, läge dieser bereits im Operations­saal“, sagt Boeken. Denn bei einer Transplant­ation muss es schnell gehen – maximal vier Stunden sollen zwischen Organentna­hme und Organ einsetzen vergehen.

Was das bedeutet, hat Boeken erst in der vergangene­n Nacht erlebt. Es gab ein Herz, das über Eurotransp­lant vermittelt wurde und für das es in Europa keinen anderen passenden Empfänger auf der Hochdringl­ichkeitsli­ste gab. So wurden auch Patienten gescannt, die auf der Liste nicht so weit vorne standen, und zu einem von Boekens Patienten passte es. Der Mediziner flog abends mit einem Privatjet in die Spenderkli­nik, entnahm dem Spender gegen 23 Uhr das Herz. Währenddes­sen bereiteten seine Kollegen in Düsseldorf den Patienten schon vor, indem sie zum Beispiel den Brustraum öffneten. Gegen 2 Uhr in der Nacht war er wieder in Düsseldorf mit dem Spenderorg­an. Bis morgens um 10 Uhr dauerte die Operation. „Dass es mit dieser Spende geklappt hat, war für den Patienten wie ein Sechser im Lotto“, betont Boeken.

Auf solch einen Treffer hofft auch Edzard Kruse. Diese Woche läuft für ihn eine wichtige Frist ab. Zwei Monate darf er auf der Liste der hochdringl­ichen Patienten stehen, dann wird sein Zustand von drei Ärzten begutachte­t und die Dringlichk­eit bestätigt oder herabgestu­ft. Boeken geht davon aus, dass Kruses Zustand sich nicht verbessert hat. Das hieße, er bliebe auf der wichtigen Liste. Und er darf weiter warten. Und hoffen.

In den Momenten, in denen Edzard Kruse bangt, dass sein Herz wieder zu schlagen beginnt, spürt er Todesangst „Wenn ein Hubschraub­er landet, denke ich: Vielleicht ist das jetzt ein Herz für mich“ Patient Edzard Kruse

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FOTO: A. ENDERMANN
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FOTOS: ANDREAS ENDERMANN In Reisekatal­ogen kann Edzard Kruse zurzeit nur blättern, er darf die Düsseldorf­er Klinik nicht verlassen. Mit einem Spenderher­z könnte er wohl wieder ein ganz normales Leben führen.

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